„Man muss sich in die Sprache einhaken“

Die Filmemacherin und Autorin beschreibt in ihrer Autobiografie, wie sie sich in der chinesischen Provinz und in England durchgeschlagen hat 

Frau Guo, wenn man liest, was Sie über Ihre Kindheit in der chinesischen Provinz schreiben, denkt man eher an das Mittelalter als an die 1970er-Jahre.

Die Fischer in einem Dorf wie unserem hatten keine Kontrolle über ihr eigenes Schicksal. Wir Kinder litten sehr unter der Armut – vor allem der Armut an Liebe.

Ihre Eltern haben Sie als Säugling weggegeben. Warum?

Mädchen waren traditionsgemäß weniger wert als Jungen. Außerdem hatte in den 1970er-Jahren auch eine Mutter in der Fabrik zu arbeiten. Wer sollte auf die Kinder aufpassen? Natürlich kann ich meiner Mutter das im Buch vorwerfen, aber in Wirklichkeit war es eine Folge der Fragmentierung der traditionellen Familie, im Zuge derer die Großeltern nicht mehr bei den Kindern lebten. Das China der letzten fünfzig Jahre ist wie ein lebendiges Museum, in dem die Industrialisierung in einer sehr kondensierten und beschleunigten Art abgelaufen ist, 300 Jahre später als in Europa.

Ihre Eltern trafen sich im maoistischen China als Klassenfeinde ...

Man war entweder Proletarier oder Bourgeois. Mein Vater wurde als Künstler von den Roten Garden, denen meine Mutter angehörte, automatisch als Klassenfeind eingestuft. Er war aber so abgemagert, dass meine Mutter Mitleid mit ihm hatte und ihm half, im Arbeitslager zu überleben.

Wie steht es heute in China mit der Unterdrückung von Mädchen?

Ich denke nicht, dass das spezifisch für China ist. Schauen Sie nach Japan oder Korea. Natürlich hat sich die Situation in den westlichen Gesellschaften seit den 1960er-Jahren wesentlich verbessert. Aber es gibt nach wie vor katholische Länder wie Irland, in denen es kein Recht auf Abtreibung gibt. Wir leben immer noch in einer sehr barbarischen Gesellschaft. Aber Gewalt und Aggression sind ein Puzzlestück unserer Menschlichkeit. Ich sage das, weil man meinen könnte, es ginge in meinem Buch um eine Opfer geschichte. Ich denke, unsere menschliche Erfahrung hat grundsätzlich eine dunkle Seite. Aber es gibt viele Wege, auf denen man sich aus dem Elend hervorkämpfen und sein Leben völlig neu gestalten kann.

Sie haben sich gegen 7.000 Mitbewerber an der Pekinger Filmhochschule durchgesetzt. Als Studentin dort waren Sie »vom Westen besessen« ...

Ich war begeistert von der Popkultur, der Beat-Generation, ich habe mich in deren rebellischem Moment wiedergefunden. Und ich war begeistert vom europäischen Kino: Godard, Pasolini, Fassbinder. Ihre Filme haben so viel Modernität transportiert. Das war meine Vorstellung von Europa, dort wollte ich unbedingt hin. Die klassische oder religiöse westliche Kultur dagegen habe ich nie verstanden, ich fand sie immer unheimlich und depressiv.

In welcher Sprache schreiben Sie?

Als ich mit einem Stipendium für eine Filmhochschule nach London kam, begann ich meine Bücher auf Englisch zu schreiben. So konnte ich frei von Zensur – auch von Selbstzensur – schreiben, frei von meinem alten Stil. Für einen Thomas Mann wäre es ein lä- cherliches Unterfangen gewesen, sich in einer fremden Sprache auszudrü- cken. Heute aber sind viele Immigranten dazu gezwungen. Man muss sich in die Sprache des neuen Landes einhaken, um sich Respekt zu verschaffen. Als Immigrantin beneide ich zwar die staatlich unterstützten einheimischen Künstler in England oder Deutschland, andererseits kritisiere ich sie für ihre Bequemlickeit. Denn heutzutage muss man sich durchsetzen können. Unser Leben besteht nicht aus täglichen Yogastunden und Ferien. 

Es war einmal im Osten. Ein Leben zwischen zwei Welten. Von Xiaolu Guo. Knaus, München, 2017.

Das Interview führte Friederike Biro