Une Grande Nation

„Macron will Lehrer in die Vororte schicken“

Der Politologe über die französische Jugend und ihre Bildungschancen. Ein Gespräch 

Sie haben vier Söhne – und wie viele Enkel?

Nur fünf Enkel. Beinahe deutsche Verhältnisse: 2+2+1+0. Die älteste Enkelin ist 27, die jüngste 17, sie hat gerade ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden. Dazwischen zwei Jungs, beide 1,90 Meter groß, und ein Mädchen. Wir alle sprechen oft über Politik. Alle, die schon wählen dürfen, haben für Macron gestimmt und sind heute enttäuscht.

Entspricht seine Politik nicht Ihren Erwartungen?

Die Art, wie er den höchsten General Pierre de Villiers kritisiert hat, hat ihn noch viel mehr mit dem ganzen Militär verkracht als es Ursula von der Leyen mit der Bundeswehr ist. Er hat den Militärhaushalt beschnitten. Den ärmeren Schichten der Rentner werden fünf Euro monatlich weggenommen. Er weiß nicht, wie er auf europäischer Ebene sparen und gleichzeitig die Steuer senken soll. Seine angekündigte große Politik benötigt einen erweiterten Haushalt. Kurz: Ziele und Methoden seiner Politik sind unklar.

Auch in Deutschland wird gespart ...

Deutschland sollte investieren und seine schwarzen Zahlen dazu benutzen, um Schulen, Straßen und Brücken zu sanieren, auch mithilfe ausländischer Unternehmen. Das fordert Macron zu Recht.

Was ist mit den Linken in Frankreich passiert, wo doch linke Themen wie Armut, Ungerechtigkeit in der Luft liegen?

Das Seltsame ist, wie selten im französischen Wahlkampf das Wort »chômage«, »Arbeitslosigkeit«, gefallen ist. Dabei ist das doch unsere nationale Krankheit. Offiziell gibt es drei Millionen Arbeitslose. Wenn Sie die Kurzarbeiter und Familien dazurechnen sind fünf oder sechs Millionen Menschen betroffen. Die Empörung darüber hat sich Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei La France insoumise (»Unbeugsames Frankreich«) auf die Fahnen geschrieben. Während des Wahlkampfes war er der beste Redner, so wie es etwa Gysi in Deutschland lange war. Mélenchon hat nun eine Fraktion in der Nationalversammlung und stellt die härteste Opposition, während Marine Le Pen dank unseres Wahlsystems, nur über acht Abgeordnete verfügt.

Viele junge Menschen wollten sich bei der Wahl enthalten.

Persönlich wäre ich für ein System der Pflichtwahl wie in Belgien. Wenn Sie Frankreich betrachten, dann sehen Sie etwas Erstaunliches. Der Norden und Osten Frankreichs wählte Le Pen. Die reichen elsässischen Dörfer, in denen es keine Ausländer gibt und wenig Arbeitslose, wählten Le Pen. Warum? Mit dem Kopf kann man das nicht verstehen.

Welche Rolle spielt das Bildung für die neue Regierung ?

Das Thema steht im Programm von Macron an erster Stelle. Er will etwa gestandene Lehrer, gut bezahlt, in die Vororte schicken und den Grundschulen in diesen Vierteln kleine Klassen ermöglichen – damit diese jungen Menschen nicht endgültig verloren sind. Sie sind alle Franzosen, werden aber total diskriminiert: durch die Polizei, bei der Wohnungssuche, bei der Berufswahl. Und da sie als Franzosen diskriminiert werden, suchen sie eine andere Identität. Das mag der Islam sein, aber der war nicht zuerst da – sondern die Diskriminierung. In Frankreich wie in Deutschland müssten die Weichen für den Bildungsweg eines Kindes später gestellt werden. Aber den Vorsprung des »guten« Elternhauses zu überwinden scheint beinahe unmöglich.

Was geben Sie Ihren Enkeln für die Zukunft mit?

Ich weiß nicht, was ich ihnen »mitgebe«. Ich weiß nur, dass die drei Generationen in meiner Familie die gleichen Werte teilen, meine Frau aus religiöser Überzeugung, alle anderen wahrscheinlich aus Humanismus ohne Religion.