Hotspot Hongkong
Die ehemalige britische Kolonie will ihren Sonderstatus als Kulturmetropole neu definieren und wandelt ein Ufer in eine Kunstmeile um
Wer die diesjährige Biennale in Venedig besucht, sollte sich die Werke des Hongkonger Künstlers Samson Young nicht entgehen lassen. Der 38-jährige studierte Komponist und Philosoph zeigt Videoarbeiten und Installationen unter dem Titel »Songs for Disaster Relief«. Young untersucht darin die psychologische, kulturelle und ästhetische Wirkungskraft von Popliedern, die komponiert wurden, einzig um Spendengelder für Katastrophenopfer zu sammeln. Young ließ einen Hongkonger Chor »We are the World« in leidenschaftlichem Flüsterton hauchen. In einem anderen Video ersetzt Young den Liedtext von »Bridge Over Troubled Water« durch zufällig gewählte Zahlenfolgen, die er selbst auf Kantonesisch singt. In beiden Fällen sind die Stücke verfremdet, doch haben sie sich so sehr ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, dass sie auch ohne Text oder Melodie erneut unsere Gefühle zu mobilisieren vermögen.
Seit Jahren zeigt Hongkong zur Biennale seine Talente, obwohl die Stadt keinen eigenen Pavillon besitzt. Das Hong Kong Arts Development Council hat Räume direkt gegenüber den Toren des Arsenale angemietet. Diese kostspielige Entscheidung der Regierungsbehörde zeigt, dass sich Hongkong kulturpolitisch ehrgeizige Ziele gesetzt hat. Seit der Wiedervereinigung mit China vor genau zwanzig Jahren ist die Stadt auf der Suche nach einer neuen Identität. Die Spanne von 154 Jahren als britische Kronkolonie hat auf allen Ebenen tiefe Spuren hinterlassen. Zwar genießt Hongkong als Sonderverwaltungszone übergangsweise Privilegien wie freie Marktwirtschaft und hohe innere Autonomie, doch was kommt nach 2046, wenn die endgültige Eingliederung ins Mutterland erfolgt? Was unterscheidet Hongkong dann noch von anderen chinesischen Megacitys am Meer?
Die politischen Entwicklungen deuten bereits jetzt auf einen prochinesischen Kurs hin. Auch strukturell und ökonomisch hat sich die Stadt unter dem wachsenden Zustrom von neureichen Chinesen grundlegend gewandelt. Die Immobilienpreise sind exorbitant gestiegen, die kleinen Lä- den auf der Nathan Road mussten den Gold- und Markengeschäften weichen, um der riesigen Nachfrage von Tagestouristen aus dem Reich der Mitte gerecht zu werden. Der große Ausverkauf scheint der Stadt zunehmend ihre Seele zu nehmen. Viele Hongkonger fürchten um ihre Identität, um ihre Kultur, ihre »Hongkongness«. Sie blicken sehnsüchtig zurück in die 1980er- und 1990er-Jahre, als die Musik von Andy Lau und Jacky Cheung sowie die Filme von John Woo und Wong Kar-wei den popkulturellen Puls der Stadt diktierten. Heute orientieren sich die meisten Stars nach China, weil dort die größeren Absatzmärkte sind. Sie singen und sprechen nicht mehr Kantonesisch, sondern nur noch Mandarin.
Die Stadtverwaltung hat das Problem erkannt und arbeitet seit einigen Jahren daran, durch gezielte Kulturförderung dem drohenden Identitätsverlust entgegenzuwirken. Statt auf Konsumtempel setzt die Regierung auf neue Identifikationsorte der kulturellen Bildung und Begegnung. Das ambitionierteste Kulturprojekt ist der West Kowloon Cultural District (WKCD). Das Projekt erstreckt sich über ein vierzig Hektar großes Areal westlich des Victoria Harbor, ist mit umgerechnet 2,3 Milliarden Euro veranschlagt und damit eines der größten Kulturprojekte der Welt. Auf dem Areal befinden sich Museen, zahlreiche Theaterbühnen, Konzerthallen, Stätten für Mode und Design und Filmtheater im Bau. Verschiedene internationale Architekturfirmen wirken dabei an den Konzepten mit. Über die Hälfte der Fläche ist für einen Naherholungspark mit weitläufiger Hafenpromenade reserviert. Führungen zur heimischen Flora sind Teil des groß angelegten kulturellen Bildungsprogramms.
Das Herzstück des WKCD wird das M+-Museum für visuelle Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts sein. Vom Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron geplant, wurde es bis vor Kurzem von Lars Nittve geleitet. Der ehemalige Gründungsdirektor der Tate Modern war es auch, der den Unternehmer und Mäzen Uli Sigg überzeugen konnte, den größten Teil seiner Sammlung chinesischer Gegenwartskunst dem M+ anzuvertrauen. Dank weiterer Schenkungen und Ankäufe wuchs die Sammlung des M+ mit Schwerpunkt Asien auf über 6.000 Kunstwerke an, was für ein Museum mit Anspruch auf Weltklasse noch bescheiden ist. Die Sammlung des Tate Modern etwa umfasst 60.000 Exponate. Tatsächlich war laut Nittve die größte Herausforderung, in kürzester Zeit eine hochkarätige Sammlung aufzubauen – eine Mammutaufgabe, doch nicht die einzige Schwierigkeit: Wegen Bauproblemen musste der Eröffnungstermin bereits zweimal verschoben werden, nun soll Ende 2019 inauguriert werden. Anfang 2016 dann hat Nittve selbst das Handtuch geworfen. Inzwischen wurde die in Sri Lanka geborene Suhanya Raffel als Nachfolgerin ernannt, eine Expertin für asiatische Gegenwartskunst.
Allen anfänglichen Widrigkeiten zum Trotz ist das WKCD ein mächtiges Bekenntnis der Stadtregierung zum europäischen Wertemodell, das Kultur und Bildung ins Zentrum urbaner Identität stellt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Arts Development Council das WKCD nach allen Kräften unterstützt, damit Hongkong trotz der Bauverzögerungen von ersten Ausstellungen profitieren kann. Beispielsweise kooperiert das Council mit den Kuratoren des M+ bei der Biennale in Venedig. Mit Samson Youngs eindrücklichen Videoarbeiten beweist das M+ um seinen Chefkurator Doryun Chong, dass es durchaus auf der internationalen Kunstbühne mithalten kann.