Une Grande Nation

Gott ist einsam

Als die Franzosen nach Westafrika kamen: Eine Geschichte über Missionare im Senegal der Kolonialzeit

Zur selben Zeit, zu der er zum Christentum konvertierte, hatte Grace’ Vater das Stückchen Land abgetreten, das nötig war, um eine Kirche und ein Haus für den Schweizer Missionar zu bauen, der an der Übersetzung der Bibel arbeitete, und noch ein weiteres Haus für den Dolmetscher, Bruder Kimba, der ihn häufig besuchte.

Und die halbwüchsige Grace, zusammengerollt in einer Ecke des Salons, betrachtete fasziniert aus dem Augenwinkel die Statur des Dolmetschers, oder vielmehr die Umrisse seiner Silhouette, um die eine weite, fließende Tunika drapiert war. Man hatte ihr erzählt, dass die Dolmetscher im frühen Kindesalter ihren Familien entrissen wurden, sobald sie ihre Muttersprache gelernt hatten, um bei englischen, französischen, portugiesischen oder deutschen Familien als Hausdiener zu arbeiten – eine grobe Methode, durch die sie schnell die Sprache des jeweiligen Haushalts lernten, bevor man sie in Begleitung eines Kommandanten, eines Reporters, eines Wissenschaftlers oder eines Missionars wieder ins Landesinnere zurückschickte.

Aber Bruder Kimbas Biografie war weniger filmreif. Sein Onkel, der ihn aufgezogen hatte, hatte ihm gesagt: »Am Anfang war die Schrift.«

Dieser Mann war Holzschnitzer und stellte zeremonielle Masken her. Er gehörte zum traditionellen Kreis der Notabeln, teilte aber nicht die Verachtung, die seinesgleichen für die neue Art von Schule hegte, die die Missionare mitgebracht hatten. Er sagte zu seinem Neffen: »Am Anfang war die Schrift.«

Er erklärte ihm, dass die Zeichen des Wissens am Anfang in der Natur versteckt waren. Die Zeichen des Wissens waren in den anthropomorphen und zoomorphen Signaturen enthalten, welche die Landschaften durchzogen in den abgeknickten Pflanzen, in den haltbaren Abdrücken, welche die Füße der Vögel im Boden hinterlassen hatten, aber auch in der senkrechten Ausrichtung der Bäume, die dazu einlädt, den Kopf zu heben, um die zarten Linien zu lesen, die ihre geflügelten Bewohner zeichnen, und um die Vorzeichen am Himmel zu deuten und jenseits des Himmels, in der dunklen Leere, die Geschichte des Ursprungs zu lesen, die uns die Sterne in der Sprache der großen Zahlen blinkend übermitteln.

Zu jener Zeit, als die Zeichen des Wissens in der Natur versteckt waren, musste jeder, der die Welt lesen wollte, sich von der Bruderschaft der Jäger in die Mysterien der Jagd einführen lassen. Später waren die Zeichen des Wissens in Holz und in Stein versteckt, in der Maske und der Kathedrale. In diesen Zeiten mussten jene, die lesen wollten, sich von der Bruderschaft der Handwerker in diese Kunst einführen lassen. Und heute, sagte der Onkel, sind die Zeichen des Wissens in den Büchern versteckt, und jeder, der die Welt lesen will, muss den Weg der Schule gehen.

So fand das Kind sich also in einer katholischen Missionsschule wieder, wo es, in einem Alter, in dem es nichts über das weibliche Geschlecht wusste, die Geschichte von einer Jungfrau namens Maria hersagen musste. Man befand, er sei ein guter Schüler. Man sagte ihm, wie allen guten Schülern, eine Zukunft im Priesterseminar in der Hauptstadt voraus, in die er dann auch aufgenommen wurde. Wenn er nicht von seinem Onkel erzählte, sprach Bruder Kimba über das große Projekt der Übersetzung der Bibel, eines Buches, das zuerst im Jahre 600 nach Christus nach Afrika gekommen war, wo es ins Altäthiopische übersetzt wurde. Nun ging es darum, es in die Sprache der westafrikanischen Küstengebiete zu übersetzen, insofern man die Bezeichnung »Sprache« auf jene Klangstrukturen anwenden konnte, die der erste deutsche Linguist, der als Aufklärer gekommen war, beschrieben hatte, indem er sagte: »Diese Leute sprechen nicht. Sie singen.«

Ein halbes Jahrhundert später war das verrückte Unterfangen, die Bibel in diese nichtmenschliche Sprache, diese Vogelsprache umzuwandeln, noch immer nicht abgeschlossen. Die Übersetzung stieß sich von Anfang an am ersten Vers des ersten Kapitels des Buches Genesis: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Wie sollte man dieses zentrale Wort des Monotheismus, das Wort »Gott«, einzigartig und singulär, in eine polytheistische Sprache übersetzen, in der es nur in der Pluralform existiert – wie »die Leute« im Deutschen oder die »pants« im Englischen, erklärte Bruder Kimba. Eine Sprache, in der alles doppelt ist, jedes Individuum: der Stein, der Baum, der Tisch, das Gewehr, der Mensch, ja, die Gottheit selbst – in einer solchen Sprache ist der Schöpfergott ein inzestuöses Paar von männlich- weiblichen und weiblich-männlichen Zwillingen. Der »einzige Gott« wäre in dieser Sprache ein Gott, der »allein «, »einsam« oder »zur Abgeschiedenheit verdammt« ist, schloss der perplexe und verängstigte Übersetzer. In Grace’ Land hatte man den katholischen Missionar mit seinen Riten, seinem Gott, seinen Heiligen, seiner Jungfrau, seinem Dolmetscher und seinen kleinen bebilderten Kärtchen zum Anlocken der Kinder freundlich empfangen

Und kurz nachdem er sich niedergelassen hatte, hatte er begonnen, die neuen Konvertiten dazu aufzufordern, sich im Verlauf der zahlreichen Missionierungssitzungen öffentlich über das lustig zu machen, was früher Gegenstand ihrer Anbetung gewesen war, Empfänger ihrer Opfergaben, ihrer Festgesänge. Nun sollten sie alldem, so brachte man es ihnen bei, den unübersetzbaren Namen »Fetisch« verpassen, ein Wort, für das es in ihrer Sprache keine Entsprechung gab, sodass es sich gewaltsam seinen Weg in ihre Münder bahnte. Und währenddessen türmten sich die Symbole der alten Gottheiten in Stapeln; Masken und Statuetten, die zum Ende auf dem Scheiterhaufen verdammt waren und die man unter lauten Halleluja-Rufen verbrannte.

Das Volk, das an der Entweihung der Symbole des Wissens durch das Feuer teilnahm, war wie versteinert und fragte sich, ob dieses Spektakel nicht Vorbote einer nahen Zukunft sei, in der die Menschen an der Reihe wären, auf den Scheiterhaufen zu verbrennen, oder in der man Köpfe abschlagen würde, um jene Münder zum Schweigen zu bringen, die noch diese Symbole lesen konnten. Grace war zwölf Jahre alt, als sie Zeugin der ersten gezielten Verbrennungen von Kultobjekten auf dem Vorplatz der Kirche wurde, im Namen des Glaubens. Ihr ganzes Leben lang würde Grace nicht verstehen, was mit diesem Glauben gemeint war, sie, die im Alter von sechzehn Jahren eine Theologie übernommen hatte, die sich in der Kunst übt, mit einem Gott zu verhandeln, der nicht verhandelt, mit diesem brutalen, patriarchalen Peitschenschwinger, den zeitlebens würdevoll zu ignorieren sie sich geschworen hatte.

Und es geschah auf demselben Vorplatz, im selben Jahr, eines Sonntags, dass alle Männer, als sie die Kirche verließen, von anderen Männern mit Maschinenpistolen aus der Menge gezogen, aufgereiht und sortiert wurden. Dies war der Beginn der Razzien, welche die Städte und Dörfer in allen französischen Kolonien Westafrikas entvölkern würden. Diese Zwangsmobilmachung im Namen der Gleichheit aller vor der Freiheit zog aus der männlichen Bevölkerung die Kräftigsten ab, um sie nach Europa zu schicken, zum Siegen oder Sterben. Es war der Zweite Weltkrieg.

Und unter den Auserwählten, die nach der Sortierung, deren Zeugin Grace an jenem Sonntag auf dem Vorplatz der Kirche geworden war, eingezogen und verschifft wurden, war ihr Onkel, der kleine Bruder von Yao Akato.

Dieser kleine Bruder, dessen Einziehung der Vater von Grace, trotz seiner Verbindungen zur Kolonialverwaltung, trotz seines Status als Assimilierter, nicht hatte verhindern können, dieser Bruder. Sein Körper war nicht unter den 88 Körpern, die in der Erde von Lyon deponiert wurden, auf einem Friedhof, den man »Senegalesisches Tata« nennt. Sein Körper war nicht Teil jener eintausenddreihundertunddreiunddreizig Toten, die von deutschen Truppen in der Nähe von Lyon standrechtlich erschossen wurden, war nicht Teil jenes 25. Regiments der »Senegalesischen Schützen«, das den Befehl erhalten hatte, die Stellung zu halten, »ohne den Gedanken an Rückzug«, während es mit einem Geschosshagel aus Kanonen und Gewehren überzogen wurde.

Er durchquerte den Gewittersturm, ohne vom Blitz erschlagen zu werden. Er durchquerte den Geschützlärm, ohne erschossen zu werden. Er durchquerte die Explosionen, ohne zu explodieren. Er durchquerte den Pulverdampf, ohne pulverisiert zu werden. Er durchquerte den Tod und kehrte zurück, unversehrt, traurig und schlecht bezahlt.

Er zog den großen Bruder in die Politik hinein, ein Mann, der reizbar geworden war, in dessen Augen dieses ganze monotheistische und monogame Abenteuer anfing, lächerlich zu erscheinen, diese Geschichte vom einzigen Gott, Gott allein oder einsam, oder zur Abgeschiedenheit verdammt, vertrieben aus dem Chor der Götter, dadurch verbittert und rachsüchtig geworden, denn es verhält sich mit den Göttern wie mit den Menschen: Man wird zynisch und rachsüchtig, wenn man sich ausgeschlossen fühlt.

Auszug aus Kossi Efouis Roman Cantique de l’acacia (Éditions du Seuil, Paris, Oktober 2017)

Aus dem Französischen von Carolin Härdter