„Frankreich wird gewaltsamer, aber auch ehrlicher“
Der Philosoph über die soziale Spaltung des Landes und warum er trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft blickt
Europa steckt in der Krise und Frankreich auch: Der rechtsgerichtete Front National stellte eine Präsidentschaftskandidatin, die es bis in die zweite Runde schaffte, Terroranschläge haben viele Opfer gefordert, und die Arbeitslosenquote ist mit 9,6 Prozent hoch. Geht es Frankreich besonders schlecht?
Es ist schwierig, gegenüber Frankreich gerecht zu sein. Frankreich ist immer noch ein reiches Land, aber seit meiner Kindheit spüre ich ein Gefühl von Verlust. Frankreich fühlt sich verwundet, eine dieser Wunden hat mit seiner Kolonialgeschichte zu tun. Le Pen ist ein Produkt des Algerienkrieges. Eine andere Wunde hat mit der Tatsache zu tun, dass alle Länder liberale Reformen durchgeführt haben, Deutschland unter Schröder, Großbritannien unter Blair, nur Frankreich nicht. Seit 15 Jahren nicht. Die dritte Wunde sind die terroristischen Anschläge, die wiederum mit der ersten, der Kolonialgeschichte Frankreichs, zusammenhängt.
Natürlich gibt es auch ein bestimmtes französisches Lamento, eine Klage, dass es auch kulturell nicht mehr weit her ist. Der französische Film ist nicht mehr, was er einmal war, und auch die Literatur ist es nicht. Die Franzosen fühlen sich ärmer, als sie sind. Aber der Hass ist überall. Es ist nicht wie in Deutschland, wo die Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg eine Ausnahme darstellen. Wir haben diese Gewalt täglich. Es gibt in der französischen Gesellschaft ein Begehren nach Krieg, und zwar von Islamisten, Identitären, die Kreuzzüge wollen, es gibt Sommercamps, die von Neofaschisten organisiert werden, es gibt Studenten, die gegen die Polizei kämpfen, und so weiter. Wir werden trotzdem keinen Bürgerkrieg hier haben. Es ist eher wie ein Zirkus, ein Theater, eine symbolische Bühne, auf der diese Triebe ausgetragen werden.
Frankreich ist tief gespalten: in eine weiße Arbeiterklasse, eine Elite, der man vorwirft, sich abzuschotten, ein verunsichertes Bürgertum, und in die Banlieues, in denen vor allem Einwanderer leben; es gibt Dschihadistengruppen und Salafisten. Wie ist das passiert?
In anderen Ländern ist das ebenso, wie im Nordosten der USA zum Beispiel. In Amiens in Nordfrankreich, wo ich unterrichtet habe, gibt es Familien, die in der dritten Generation arbeitslos sind. Diejenigen, die Le Pen gewählt haben, sind zu einem großen Teil weiße Arbeiter, die sich gedemütigt fühlen – durch ihre Arbeitslosigkeit aber auch kulturell. Sie werden zwar vom Staat unterstützt, aber diese ehemalige Arbeiterklasse ist unruhig, weil sie keine eigene Musik hat, keinen eigenen Kleidungsstil, keine Street-wear. Sie müssten eine eigene Kultur erfinden. Auch wenn es den Banlieues wirtschaftlich schlecht geht, ist es ihren Bewohnern gelungen eine Kultur zu erfinden, mit der sie sich identifizieren. Die Jugend in den Banlieues etwa glaubt an den Fußball. Symbolisch gesehen macht Fußball stolz, viele Schüler verlassen allerdings die Schule, weil sie meinen, in einem Fußballverein Karriere machen zu können. Das ist natürlich schlecht.
Es geht also um die sozialen Spannungen?
Es gibt noch einen anderen Grund für die tiefe Spaltung des Landes: den Laizismus. Die Republik, das Versprechen, dass wir alle gleich sind, ist eine Lüge, die uns seit vierzig Jahren erzählt wird. Nie hat man über Minderheiten gesprochen. Bis ich 25 war, hat es außer einem einzigen Abgeordneten aus der Bretagne keinen Schwarzen in der Nationalversammlung gegeben. Schwarze und Maghrebiner waren inexistent, auch in den Filmen von Godard, Truffaut und Rohmer, tauchen sie nicht einmal als Statisten auf der Straße auf! Die Republik hat sie unscheinbar gemacht. Erst mit dem Film »Ziemlich beste Freunde« wurde das im Kino anders. Das Gleiche gilt für die Frauen. Frankreich ist ein chauvinistisches Land. Nur in der Theorie war der Feminismus stark. Diese Lügen sind eine Erklärung dafür, warum heute viele Menschen von Identitätsfragen besessen sind. Und das kam eruptiv. Zwar ist Frankreich heute gewaltsamer, aber es ist auch ehrlicher, es kehrt weniger unter den Teppich. Heute spricht man über Religion und Sexualität.
Macron möchte Frankreich zu alter Größe verhelfen, es soll wieder Grande Nation sein, auch in der Weltpolitik. Damit hat er dem Front National den Wind aus den Segeln genommen. Er sagt, Frankreichs Kämpfe müssten größer sein als es selbst. Was halten Sie davon?
Die Leute haben Macron gewählt, damit Le Pen nicht an die Macht kommt, er hat nicht viele Stimmen bekommen, er ist der schwächste Präsident überhaupt. Die Linke in Frankreich ist auch schwach. Macron verkörpert eine alte Modernität, die von Blair. Ich weiß nicht, ob er viel Handlungsspielraum hat. Auch er ist eingebettet in ein politisches System mit seinen Abläufen. Auch wenn das Amt symbolisch aufgeladen ist, kann Macron keine Einzelentscheidungen treffen. Und er verärgert die Menschen schnell. Er ist besser als Sarkozy, Hollande und in jedem Fall besser als Le Pen. Aber Macron spielt mit einem Phantasma Frankreichs, er bedient alte Bilder wie Napoleon, Jeanne d’Arc oder de Gaulle, aber das ist wieder so eine dieser französischen Lügen.
Sie sagen, Frankreich ist kein weißes Land mehr. Was ist es dann?
Frankreich ist kein multikulturelles Land, alles ist in Paris zentralisiert, das heißt einheitlich und vereinheitlicht, aber die Einheit des Landes ist nicht mehr weiß. Ich würde Frankreich als postkoloniales Land bezeichnen, von dieser Frage ist es geprägt. Es ist weniger multikulturell als manche Gegenden Deutschlands. Es ist weit und breit das einzige laizistische Land. Der Laizismus hat eine autoritäre Tendenz, er ist die letzte Wunde. Ich denke, Frankreich sollte aufhören ein laizistisches Land zu sein. Religion ist Gegenstand von Studienfächern, in der Soziologie zum Beispiel, Theologie als eigenständiges Fach kann man an Hochschulen nicht studieren, nur an katholischen Universitäten. Emmanuel Todd hat treffend vom »katholischen Zombie« gesprochen.
Wie könnte ein neuer sozialer Zusammenhalt entstehen?
Etwas bleibt in Frankreich stark, und das ist die Sprache. Das Französische ist eine Sprache, die sich verändern kann. Es finden sich in ihr Wörter aus dem Arabischen, es ist eine spielerische Sprache, die sehr durchlässig ist, von einer Schicht schnell in die nächste wandert, sie zirkuliert, hat Fantasie, ist fluide und es ist eine Weltsprache. Die Sprache hält die Menschen in Frankreich zusammen.
Ehemals große Ideen gelten manchen als überholt, auch wenn viele Menschen gerade dort nach Orientierung suchen: Nationalismus, Individualismus, Kapitalismus, Rechts-Links. Sie widmen sich in Ihrem Buch »Das intensive Leben« einer anderen Idee der Moderne, der Intensität. Was interessiert Sie an dieser Idee?
Die Intensität ist ein Versprechen der Moderne, des 18. Jahrhunderts, wie die Emanzipation. Was mich interessiert hat, ist die Frage, wie sich dieses Versprechen wiederfinden, wie sich daran anknüpfen lässt. Über die Jahre wurde die Idee viel falsch interpretiert. Ich bin kein Reaktionär, ich bin kritisch und wollte zu der ursprünglichen Bedeutung der Intensität zurückfinden. Mit der Erfindung der Elektrizität entstand das Versprechen eines intensiven Lebens. Vorher ging es um das Heil im Jenseits, den Ruhm oder Gerechtigkeit und plötzlich war diese Idee der Intensität da.
Was bedeutet ein intensives Leben für den Einzelnen?
Die Intensität ist unendlich steigerungsfähig, man kann sie immer wieder haben, sie stößt sich jedoch an der Endlichkeit des Körpers. Die Forderung, dass man immer leistungsfähig bleiben muss, kommt nie an ein Ende, und das führt in die Depression, den Burnout. Wir sind heute am Ende dieser Idee und brauchen etwas anderes.
Welchen Franzosen gelang ein intensives Leben?
Die Intensität ist ein sehr französisches Ideal, das der Freigeister, von Diderot bis de Sade oder bei de Laclos in »Gefährliche Liebschaften«. Die Libertären experimentierten mit dem Körper, das ist sehr französisch. Sie glaubten nicht an ein Leben nach dem Tod. Die Intensität ist Teil des französischen Geistes, in der libertären Ausprägung war sie allerdings sehr chauvinistisch.
21,6 Prozent der 15- bis 24-Jährigen sind arbeitslos. An welches soziale Versprechen dürfen sie glauben?
Das ist wirklich sehr kompliziert. Man muss zuhören, zu diesen jungen Leuten gehen. Ich bin groß geworden, als die Berliner Mauer fiel, am Ende eines Jahrhunderts, in einer eher depressiven Zeit. Man sprach vom Ende der Geschichte. Die Jungen heute stehen am Beginn eines Jahrhunderts, und das muss man ihnen sagen. Vor hundert Jahren hat es die Russische Revolution gegeben, es war die Zeit der Avantgarde, des Dada.
Heute finden sich die Jungen zwar in einer gewaltsamen Zeit, aber sie stehen am Anfang von etwas, das ist die Hoffnung. Das 20. Jahrhundert kann man getrost hinter sich lassen – ich meine damit nicht, dass man sich nicht mehr erinnern soll, aber es war ein schreckliches Jahrhundert mit den Weltkriegen und Konzentrationslagern. Auch kulturell kann man sich verabschieden: Der Roman etwa gehört ins 20. Jahrhundert. Die Technologie möchte das Neue beschleunigen, glaube ich, aber das Internet verlangsamt auch die Entstehung von Neuem. Es funktioniert wie ein gewaltiges externes Gedächtnis, alles ist dort zu finden. Wir haben das Wissen aber nicht mehr in uns. Das Internet ist nicht kreativ.
Wenn Intensität nicht die Antwort ist, was ist heutzutage wichtig?
In jedem Fall gilt es, die Gleichheit der Menschen zu akzeptieren. Das wird oft mit Konfusion gleichgesetzt, aber ich glaube an eine tiefe Gleichheit der Dinge. Wir leben nicht in einem hierarchischen Kosmos. Das eine ist ebenso gut wie das andere, aber man muss unterscheiden können und darf kein Durcheinander schaffen. Die späte Moderne hat verunsichert und vertikalisiert, also in eine Rangordnung gebracht, wie es heute die Reaktionären tun. Heidegger sagte, die Griechen und die Deutschen wären der Ursprung der Kultur – was für eine Vorstellung! Ich habe mich auch mit Philosophien und Religionen aus anderen Ländern beschäftigt, China, Indien ... Es braucht eine Dekonzentration des Westens, dieser Überlegenheitskomplex ist furchtbar.
Von wem in der französischen Gesellschaft könnte Erneuerung und kulturelle Entwicklung ausgehen?
In den 1990er-Jahren hat es eine Kultur der Banlieues gegeben. Die vergangenen 15 Jahre sind in der französischen Philosophie sehr aufregend gewesen: Alain Badiou, Bruno Latour, Francis Wolff, Catherine Malabou, Quentin Meillassoux. In der Philosophie ist mehr passiert als in der Linguistik, der Psychoanalyse oder der Geschichte. Ich glaube außerdem, dass Frankreich sich dezentralisieren wird. Viele junge Menschen sind aufs Land gezogen, wegen der enormen Mietpreise. In der Bretagne und der Picardie passiert viel. Es sind Orte entstanden – mit Unterstützung älterer Menschen –, an denen sich Künstler zusammenfinden, in Kommunen, ohne Hierarchien, interdisziplinär. Das ist ein bisschen underground und anarchistisch, aber sehr lebendig. Sie leben außerhalb der Medien. Manchmal gibt es spontane Aktionen, man lädt jemanden ein, den man gut findet. Die Krise hat die Menschen wieder zueinander gebracht.
Also nicht mehr Paris?
Paris ist eine tote Stadt, ein Museum, eine falsche Stadt, voll von Touristen und erfolgreichen Menschen. Schuld daran ist zu einem großen Teil Airbnb. Im Norden von Paris, wo ich gewohnt habe, bestand das Hochhaus fast nur noch aus Wohnungen, die an Touristen vermietet wurden. In Paris wimmelt es auf den Straßen von Obdachlosen und Flüchtlingen, mitten in der Stadt, an der Porte de la Chapelle zum Beispiel, Menschen, denen es miserabel geht.
Das Interview führte Stephanie von Hayek