Die Scham der Vergangenheit
Warum das Erinnern in Litauen so schwerfällt
Mein Vater war ein hartnäckiger und leidenschaftlicher Trinker. Als ich zwölf war, verließ ihn meine Mutter. Später, als ich zum Studium ging, ist sie zu ihm zurückgekehrt, weil Einsamkeit, wie wir wissen, mit der Zeit lästig wird. In der Kindheit habe ich mit meinem Vater nicht kommuniziert, er war meistens entrückt. Später, ein paar Jahre vor seinem Tod, konnten wir manchmal miteinander reden. Leider ist er gestorben, bevor ich mich ernsthaft für seine Vergangenheit und für die Vergangenheit meiner Familie und auch die Vergangenheit meines Landes zu interessieren begann.
Das Trinken war in der Sowjetunion ein fester Bestandteil der Kultur. Die Menschen haben nicht nur getrunken, um ihren Seelenschmerz zu ertränken. Der Alkoholgenuss war auch in größeren oder kleineren Kollektiven ein wahres Ritual: Er bewirkte die Zerstörung einer konfliktgeladenen Struktur, gefolgt von einer Phase des Übergangs, das heißt allgemeiner Ernüchterung, sowie dem Aufbau einer neuen Beziehungsstruktur – der Versammlung aller zur Arbeit am nächsten Morgen. Überdies war Alkohol auch eine Möglichkeit, alle von dem Regime auferlegten Zwänge und Masken abzulegen und ein Weilchen ganz man selbst zu sein.
Mein Vater war ein Schamane des Alkoholismus. Das Ritual gehörte für ihn zum alltäglichen Leben. Auf der Suche nach den Gründen seiner Passion habe ich Folgendes herausgefunden: Mein Großvater Stanislovas war vor dem Zweiten Weltkrieg Bauer gewesen sowie Mitglied der Bürgerwehr, der litauischen Schützenunion. Im Jahr 1940 besetzten die Sowjets Litauen, ein Jahr später wurden sie von den nächsten Besatzern vertrieben – den Nazis. Ich weiß nicht genau, was mein Großvater Stanislovas im Krieg gemacht hat, mein Vater erzählte, er habe eine Zeit lang Lebensmittelkarten ausgegeben.
Nach dem Krieg habe mein Großvater als Nazikollaborateur aus der westlitauischen Žemaitija an das andere Ende des Landes fliehen müssen, wo er bis in die 1960er-Jahre unter falschem Namen gelebt habe. Dann sei er entlarvt worden, jedoch nicht ins Gefängnis gekommen, weil sich eine jüdische Frau gefunden habe, der er während des Krieges das Leben gerettet habe: Während der Massenverhaftungen von Juden durch die Deutschen sei diese Frau, damals noch ein kleines Mädchen, aus dem Fenster gesprungen, wo just in diesem Augenblick mein Großvater Stanislovas gestanden habe. Er habe das Mädchen angewiesen zu fliehen, womit er ihr das Leben gerettet habe, was die Jüdin ihm mit Gleichem vergolten habe. Sie habe vor Gericht ausgesagt, dass mein Großvater Stanislovas nicht ganz zum Nazischwein geworden sei und in seinem Herzen noch ein Rest an Menschlichkeit geblieben sei. Ich weiß nicht, was daran wahr und was erfunden ist. Unser Leben ist vermutlich eine Mischung aus dem, wie es wirklich gewesen ist, und dem, woran wir uns erinnern.
In der Zeit, in der sich mein Großvater vor den Sowjets versteckte, hat mein Vater bei einem Bruder meines Großvaters gelebt. Dessen Sohn Antanas hatte nach dem Krieg an der Parteihochschule studiert, war Parteifunktionär geworden und teilte seinem Vater ein Stück Land zu. Dieses Land hatte zuvor einem Menschen gehört, der von den Sowjets nach Sibirien deportiert worden war. Und so erschienen eines Nachts im Jahre 1948 bei diesem Bruder meines Großvaters litauische antikommunistische Partisanen und erschossen ihn und seine Frau. Sie haben sie umgebracht, weil ihr Sohn ein Parteifunktionär war.
Mein Vater, damals ein 14-jähriger Halbwüchsiger, hat das alles mit angesehen, aber die Partisanen haben ihn am Leben gelassen. Mein Vater war nun völlig auf sich gestellt, denn mein Großvater wollte nicht zugeben, dass er sein Sohn sei – weil er sich sonst selbst verraten hätte. So kam mein Vater bei verschiedenen Menschen unter, wo er alle mögliche Arbeit annahm und, um nicht allzu traurig zu sein, große Mengen unterschiedlichster alkoholischer Getränke trank.
Als sich später, da mein Vater eine eigene Familie gegründet hatte, einen recht guten Arbeitsplatz hatte und Mitglied der Kommunistischen Partei war, plötzlich herausstellte, dass sein Vater, also mein Großvater, ein Nazikollaborateur gewesen war, wurde mein Vater aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Seine Lage wurde völlig beschissen.
Solche Familiengeschichten gibt es in Litauen viele. Und wenn ich versuche zu verstehen, warum es mein Volk so schwer hat, dann scheint mir, ein nicht unerheblicher Teil der Gründe liegt in ebendieser komplizierten Vergangenheit. Sowohl die Russen als auch die Deutschen haben sich gewissenlos gegen uns verhalten. Und die Schöpfungen dieser Besatzungen sind bis heute am Leben. Opfer und Henker, Kollaborateure der Nazis und der Kommunisten, Deportierte und Parteifunktionäre, Partisanen und Judenmörder – sie alle sind in Familien, Bekanntenkreisen und Gemeinschaften miteinander verflochten. All dies hat unsere Gesellschaft von innen zersetzt. Ich habe diese Geschichte in meinem Roman »Murmanti siena« (»Die raunende Mauer«, 2008) zu verarbeiten versucht. Es ist eine Erzählung über vier Generationen einer Familie, die sich mühsam durch das zwanzigste Jahrhundert windet. Im Mittelpunkt des Romans steht eine Kleinstadt mit ihren Bewohnern.
Als ich das Buch abgeschlossen hatte, ließ mir eine Episode keine Ruhe: die Erschießung der Juden dieser Kleinstadt, über die ich nur einige Zeilen geschrieben hatte. Wie beiläufig. Ich glaube, weil ich mich die ganze Zeit vor diesem Thema gefürchtet hatte. Bewusstheit ist nicht nur Wissen, nicht nur Information. Es ist in erster Linie der Wunsch, etwas zu wissen, zu verstehen, zu durchdenken. In der Sowjetunion sollten die Menschen so wenig wie möglich wissen und so wenig wie möglich durchdenken.
Drei Zonen der Erinnerung haben sich uns nach der Wiedererlangung der litauischen Unabhängigkeit aufgetan: der Kampf der litauischen Partisanen, die Sibiriendeportationen und die Ermordung der Juden. Im Partisanenkampf gegen die sowjetische Besatzung starben etwa 30.000 Menschen; zwischen 1940 und 1953 wurden aus Litauen 131.600 Personen deportiert sowie etwa 156.000 Menschen eingesperrt; während des Zweiten Weltkriegs wurden in Litauen etwa 195.000 Juden ermordet. Die Judenmorde waren in der Sowjetzeit kein in der Öffentlichkeit verbotenes, aber ein äußerst unliebsames Thema. Vielleicht weil damit andere für die Machthaber unangenehme Themen verknüpft waren: das unabhängige Litauen, die Sibiriendeportationen und die Partisanen. Ein Teufelskreis.
Heute, da wir unser historisches Gedächtnis entstauben und ordnen können, identifizieren wir uns gerne mit den Partisanen und den Deportierten, meiden aber noch immer das Thema der Judenmorde. Ich kann nicht sagen, dass es verschwiegen würde. Bücher erscheinen, Aufsätze und Artikel. Und doch ist ein Unbehagen zu spüren. Worin besteht es? Ist es Scham oder Antisemitismus? Vermutlich beides, und die Heilung dieser Krankheit ist nicht ganz einfach.
Unlängst wurde in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, ein von den Sowjets zerstörtes Denkmal für die Teilnehmer des Aufstands vom Juni 1941 wieder aufgestellt. Dieses Denkmal war im Herbst 1941 errichtet und in den 1960er-Jahren, als es ideologisch nicht ins Bild passte, abgetragen worden. Jetzt ehrt es wieder jene acht Menschen, die beim Aufstand gegen die Rote Armee gefallen sind. Gleichzeitig gibt es in dieser Kleinstadt keinen einzigen Hinweis darauf, dass dort vor dem Zweiten Weltkrieg über 1.000 Menschen gelebt haben, die am 25. August 1941 ermordet worden sind. 1.160 Einwohner einer Kleinstadt, in der zu jenem Zeitpunkt insgesamt etwa 2.000 Menschen gelebt haben. Wie mag es wohl am Morgen des 26. August in diesem Städtchen ausgesehen haben, als über die Hälfte der Einwohner tot waren? Es ist eine furchtbare Vorstellung.
Und trotzdem gibt es in dieser Kleinstadt bis heute weder eine Straße noch einen Park, noch sonst irgendein Zeichen des Gedenkens an die Juden. Wenn bei uns vom Holocaust in Litauen die Rede ist, geht es meistens um die Ghettos von Vilnius und Kaunas und ist meistens die Rede von den Nazis, die die Juden ausgelöscht haben, aber von dem Gemetzel in der Provinz und davon, dass an diesen Blutbädern Sondereinheiten beteiligt waren, die meist aus einigen Deutschen und Dutzenden von Litauern bestanden haben, war mir wie der Mehrheit der Litauer kaum etwas bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Menschen im sowjetisch besetzten Litauen über die Wunden, die der Krieg hinterlassen hatte, nicht nachdenken und sie zu heilen versuchen. Ein Teil unserer Gesellschaft mag bis heute nicht über sie sprechen, und wenn doch, dann werden meistens dieselben Argumente hervorgebracht: Die Juden seien von den deutschen Nazis und einigen litauischen Übeltätern, die vielleicht auch gar keine Litauer waren, umgebracht worden; die meisten Juden seien Kommunisten und KGB-Agenten gewesen, sodass ihre Ermordung unter den Bedingungen des Krieges gleichsam gerechtfertigt gewesen sei...
Ich überlege, warum wir Litauer, immer wenn die Rede von den Juden ist, sofort aufgebracht werden, einander kränken oder uns derart pathetisch Asche aufs Haupt streuen, dass wir die Grenze zum Kitsch überschreiten. Vielleicht weil die Judenmorde und die Beziehungen zwischen Juden und Litauern stets politisch aufgefasst werden, während wir doch über Menschen sprechen müssten, über Massenmorde an Menschen, die früher hier bei uns gelebt haben. Nur darüber. Und wenn du da kein Mitgefühl und keine Scham empfindest, dann stimmt etwas nicht mit dir.
Dass etwas nicht stimmt, fühle ich schon seit Langem, aber wie viele andere Menschen bin ich unbewusst ein Antisemit gewesen und habe erst im Alter von 45 Jahren begonnen, gegen diesen Zustand anzugehen, gegen diese träge, bequeme Unbewusstheit: Ich habe den Roman »Tamsa ir partneriai« (»Das Dunkel und seine Partner«, 2012) geschrieben, über Judenmörder und Judenmorde im Sommer 1941 in der litauischen Provinz. Es ist kein historisches Buch, eher ein metaphorisches – es handelt von einem litauischen Fotografen, der den Nazis dient und sich mit Jesus Christus vergleicht: Wie Christus kann er das Böse, das wütet, nur beobachten, aber nichts dagegen tun. Während Christus’ Hände ans Kreuz genagelt sind, hält der Fotograf den Apparat in den Händen. Ich weiß nicht, ob dieses Buch irgendetwas bewirkt hat in Litauen, aber ich bin gewiss, dass es mich verändert hat, zu mehr Bewusstheit.
Vielleicht sollte ich mich aber nicht nur fragen, ob ich mich schäme, sondern vielmehr, welcher beschämenden Dinge wir uns im sowjetischen Konzentrationslager nicht entledigen konnten. Oder welche beschämenden Dinge wir nicht erlernt haben. Welche haben wir verpasst? Der größte Schaden, den die Sowjetzeit hinterlassen hat, ist die Deformation der Identität. Sowjetlitauen war in einem gewissen Sinne ein Simulakrum, das in vieler Hinsicht nichts mit der Wirklichkeit gemein hatte, denn, sosehr uns das auch missfallen mag, eine Gegenwart ohne Vergangenheit gibt es nicht. Und die Vergangenheit war in Sowjetlitauen ausradiert oder verzerrt.
Als ich mein Buch über die Judenmorde schrieb, erhielt ich Anerkennung und Vorwürfe. Eines Tages hat mich ein Mann angerufen, der aus meiner Heimatstadt stammte, während des Krieges mit seiner Familie nach Russland geflohen war und deshalb überlebt hatte. Er hat mir Kraft gewünscht und mir eine einprägsame Geschichte erzählt: Als man die Juden zur Erschießung geführt habe, hätten sie ihren Schmuck und andere Wertgegenstände, die sie bei sich hatten, in den See geworfen.
Dieser See ist heute verschlammt, von Wasserlinsen bedeckt, er versumpft allmählich und ist schon fast gänzlich zugewachsen. Der See ähnelt dem Gedächtnis eines Menschen, das zu einem Sumpf der Gleichgültigkeit verkommen ist.
Wenn wir den See säubern wollten, wonach, nach welchen Werten würden wir in ihm suchen?
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig