Die Pfade der Elefanten

Dank moderner Messinstrumente sind Wanderwege der Tiere jetzt sichtbar. James Cheshire und Oliver Uberti haben ein Buch mit herrlichen Karten darüber geschrieben, das Wohl der Tiere aber aus dem Blick verloren 

Beim Blättern in diesem Buch kann man den Eindruck haben, ein Kindheitstraum nehme Gestalt an: Wir schweben weit über der Erdoberfläche, über den Bergen und Savannen Afrikas, über der Antarktis, den Everglades und den Ozeanen ... Von hier oben kann man endlich, wie schwerelos und selbst unbeobachtet, verfolgen, was all die anderen, nichtmenschlichen Bewohner dieser Erde so tun. Wohin Elefanten und Giraffen ziehen, wie Wale durch die Weltmeere schwimmen, in welchen Sümpfen Krokodile hausen und welch irrwitzige Wege Schildkröten und Zugvögel auf sich nehmen.

Auf fünfzig oft ganzseitigen Karten von den unterschiedlichsten Gegenden dieser Welt ist mit farbigen Strichen der Weg dieser Tiere verzeichnet. Bisweilen stehen ihre Namen dabei, die der Elefanten Kenani, Rukinga und Ndara zum Beispiel oder der Jaguare Rocky und Manu. Besondere Vorkommnisse und Gewohnheiten sind ebenfalls eingetragen: An dieser Stelle in Kenia hat Rukinga am 16. März 2016 um neun Uhr eine Eisenbahntrasse überquert, dort befinden sich die Schlafbäume der beobachteten Hyänen in Botswana, in jener Bucht der antarktischen Alexanderinsel ist die Robbe Rudolf für einen Monat an Land gegangen, um Kräfte zu sammeln.

Solche Daten werden von unzähligen Wissenschaftlern rund um die Welt erhoben und in ein globales Archiv eingetragen; für den vorliegenden Band haben sich der Geograf James Cheshire und der Designer Oliver Uberti zusammengetan, um ausgewählte Ergebnisse dieser Forschungen auch dem Laien anschaulich zu machen. Tier-Trecking, Bio-Logging, Wildtier-Telemetrie oder Tierökologie nennt sich das Ganze. Zumeist wird dabei mit GPS gearbeitet, die zu beobachtenden Tiere werden mit einem entsprechenden Chip versehen. Diese GPS-Chips senden selbst keine Signale aus, verzeichnen aber die eigene Position anhand der Bezugspunkte von mindestens drei der insgesamt dreißig Satelliten des Global Positioning System.

Später müssen die Datenträger wieder geborgen werden, wenn das Tier gestorben ist oder falls der Chip mit einem Mechanismus versehen wurde, der dafür sorgt, dass er sich irgendwann von alleine ablöst. Einige für den Unterwassereinsatz gedachte Chips, erfahren wir, treiben an die Oberfläche und senden ein Funksignal aus, damit sie wieder eingesammelt werden können. In anderen Fällen, zum Beispiel bei der Beobachtung der Bewegungen der Dachse in ihrem unterirdischen Bau, kann nicht mit GPS gearbeitet werden; dort wird den Tieren ein Gerät umgehängt, das sich am Magnetfeld der Erde orientiert.

Die Vorteile des Bio-Logging sind vielfältig. Zunächst einmal dienen sie der wissenschaftlichen Erforschung bestimmter Spezies – wie sie sich bewegen, wo sie aufeinandertreffen, und Nahrung finden, wann und wo sie ruhen. Manches davon ist schlicht kurios, zum Beispiel die beschriebenen anscheinend beliebigen Bergauf- und Bergabbewegungen gewisser Fasane im Himalaja. (Andererseits: Irgendwohin muss ein Vogel ja gehen, nicht wahr?) Viele Daten jedoch ermöglichen auch praktisch und ökologisch relevante Erkenntnisse: wie zum Beispiel Pumas durch kalifornische Autobahnen eingeschränkt werden, oder dass einige Seeotter Flussmündungen der offenen See vorziehen und entsprechende Schutzräume benötigen oder dass sich Giraffen keineswegs nur in dem Gebiet des Nationalparks aufhalten, der für sie bestimmt ist.

Oft reicht es daher nicht, eine Linie um ein Gebiet herum zu ziehen und zu erklären, dort seien Tiere nun »geschützt», wenn die Tiere selbst die Linien ja gar nicht kennen. Auch Ländergrenzen werden ignoriert – wen wundert es? –, zum Beispiel von Elefanten. Manchmal konnten Fälle von Wilderei aufgedeckt, einmal gar eine schwer verletzte, mit einem Sender versehene Elefantenkuh verarztet werden. Plötzlich zoomt der Fokus aus dem All, wo wir eben noch als Beobachter vermeintlich schwebten, ganz plötzlich an das einzelne Tier und sein Schicksal heran. Wir erfahren, wie die Kulling genannte, angeschossene Elefantenkuh gesucht und behandelt wurde; wie sie sich aufbäumend versuchte zu wehren; und dass sie dennoch leider starb. Hinter jedem Strich auf der Karte, jedem Datensatz steht ein einzelnes Leben, hinter jedem »Bewegungsmuster« ein Individuum, getrieben oder verlockt von Hunger, Durst, Angst, Familiensinn, Sexualität oder schlicht Neugier.

Dass allerdings das individuelle Wohlergehen und unaustauschbare Leben der Tiere bei all der Begeisterung für den Artenschutz in den Hintergrundrückt, ist ärgerlich an diesem Buch. Hat man sich dem ersten Zauber der schönen Karten eine Weile hingegeben, beginnt man vermehrt zu überlegen, was es wohl für die Tiere bedeutet haben mag, mit einem GPS-Gerät durch die Gegend zu ziehen. Wie ist das Ding überhaupt an, bei, auf ihnen gelandet? Mittels Einfangen, Narkotisieren und Fixieren. »Allein das Fangen eines Tieres ist so ungefähr das Schrecklichste, was ihm geschehen kann. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit ist für ein wildes Tier entsetzlich. Selbst wenn man es nicht markiert, es nur fängt und danach wieder laufen lässt, wird es wochenlang noch Muffensausen haben«, wird der Biologe Rory Wilson zitiert. Wer einmal in der Situation war, seiner frisch operierten Hauskatze einen Verband oder gar einen Halskragen anzulegen, sie davon zu überzeugen, dass man auch damit einige Tage weiterleben kann, vermag sich ungefähr vorzustellen, wie Pumas, Löwen oder Dachse auf ihr Halsband reagieren.

Wobei man einräumen muss, dass die modernen Methoden deutlich humaner sind als etliche frühere. Im Jahr 1803, lesen wir, band John James Audubon Singvögeln Fäden an die Beine, um ihre Rückkehr aus dem Winterquartier zu dokumentieren. »Die ersten Trackinginstrumente der Walforschung waren riesige mit Widerhaken versehene Spieße, in die jeweils eine individuelle Nummer und Adresse graviert war.« Solange es lebte, schwamm das Tier also mit der in ihm steckenden Harpune herum, bis ein Walfänger es endgültig harpunierte und die nummerierte Forscher-Harpune gegen eine Belohnung ablieferte. Das war vor hundert Jahren. Heute tragen manche Pinguine ein Ding namens Beakometer (»Schnabelmesser«), das »erfasst, wie viel ein Pinguin an einem Tag frisst, indem er zählt, wie oft und wie weit er seinen Schnabel öffnet«. Der Beakometer wird im Text nicht weiter erklärt, doch man kann sich leicht denken, dass es ein etwas aufwendigeres externes Gerät benötigt, um die Weite der Schnabelöffnung zu verzeichnen. Freiwillig getragen wird es mit Sicherheit nicht.

Die alte, gar altmodisch wirkende Sicht aufs Tier, bei der dieses vorrangig »Forschungsobjekt« ist und nicht eigenständiges Lebewesen, hallt an solchen Stellen bis heute nach und setzt sich auch in der hier präsentierten Forschung fort. Frühere weltreisende Naturforscher haben für ihre naturkundlichen Sammlungen bei jedem Landgang fröhlich Dutzende exotischer Vögel und Landwirbeltiere geschossen und »gesammelt«. Und heute: »Wir hatten 3.000 bis 4.000 Exemplare«, berichtet ein Insektenforscher im vorliegenden Buch. »Exemplare«, genau das ist das verräterische Wort: Das individuelle Tier ist nur Vertreter seiner Art, Träger dieser oder jener Gene, ein kleines Stück Leben, das Geheimnisse über einen größeren Lebenszusammenhang verraten kann und soll, dessen eigenes Leben aber nicht sonderlich respektiert, sondern dafür oft sogar gewaltsam beendet wird. Aber in solcher Reflexion liegt die Stärke dieses Buches nicht.

Generell sind die Textteile eher kurz, wenig systematisch; sie liefern Häppchen von Informationen und Anekdoten, die die Karten begleiten. Das mag für einen Bildband grundsätzlich in Ordnung sein. Nachdem man sich mehrmals um den Globus geblättert hat und mit geradezu intimer Kenntnis von Eulen-, Hai- und Planktonbewegungen wieder auf die Beobachterposition ins All zurückzoomt, befällt einen das ungemütliche Gefühl, dass der Globus von diesen Beakometern, Dachsogrammen und GPS-Chips doch nicht gerettet werden wird.

Nichts gegen technische Neuerungen, nichts gegen die Lust an wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es wird doch weniger das blanke Faktenwissen als vielmehr die menschliche Einstellung zum nichtmenschlichen Tier, zur Erde und seinen Ressourcen sein, die es uns ermöglichen könnte, Individuen und Arten zu schützen. Für die Einsicht, dass Siedlungs- und Straßenbau die Lebensräume anderer Spezies vernichten, dass unseren Ernährungsgewohnheiten ohnehin jährlich viele Dutzend Milliarden namenloser, ungechipter, aber lebenswilliger Tiere zum Opfer fallen, benötigt man Bio-Logging nicht. Wohin Elefanten ziehen, wo Raubkatzen schlafen – ja, mit diesen Karten wird ein Kindheitstraum wahr. Aber um den Globus als Lebensraum für seine menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner zu erhalten, braucht es heute neue, radikalere Träume. 

Die Wege der Tiere. Ihre Wanderungen an Land, zu Wasser und in der Luft – in 50 Karten. Von James Cheshire und Oliver Uberti. Hanser, München, 2017.