Ich und alle anderen

Wer hat dich erzogen?

Wie sich die sozialen Beziehungen in Syrien und Deutschland unterscheiden

Im syrischen Alltag ist das Verständnis davon, was ein Individuum ist, etwas ganz anderes als in der deutschen Lebensrealität. Als Syrer wird man in eine Gesellschaft hineingeboren, die beherrscht ist von den Gesetzen der Familienüberlieferungen. Damit meine ich Traditionen, die von einem religiösen Erbe beeinflusst sind. Der Staat, die herrschende Macht, spielt keine positive Rolle im Verhältnis zwischen Einzelnem und Gruppe. Im Gegenteil. Autoritäre Regime wie jenes von Baschar al-Assad zerstören durch Repressionen die sozialen Beziehungen. Sie verbreiten Angst und verdummen die Menschen, um sie zu kontrollieren. Deswegen ist das nähere Umfeld wie die Familie oder das Wohnviertel viel wichtiger bei der Erziehung der Menschen.

Ganz anders ist das meiner Einschätzung nach in Deutschland. Hier spielt die Familie keine so zentrale Rolle. Die tragende Rolle haben die Schule und der Staat. Ich denke, der Deutsche heiligt die Arbeit und den Individualismus, weil Deutschland eine wirtschaftliche Großmacht ist. Andererseits werden die familiären Beziehungen vernachlässigt, da der Staat seine einzelnen Mitglieder zur völligen Unabhängigkeit erzieht. Er befriedigt die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Einzelnen und deckt soziale Leistungen ab. Es sind keine familiären Beziehungen mehr nötig, um versorgt zu sein. Das mag viele Vorzüge haben. Zu den größten Nachteilen aber gehört, dass sich das deutsche Individuum vor Beziehungen verschließt – auch weil das am ökonomischen Fortschritt orientierte Leben sehr anstrengend ist.

Die Eigenarten einer Gesellschaft ergeben sich auch daraus, in welchen Beziehungen ihre Mitglieder zueinander stehen und wie empfänglich sie für die Beschaffenheit des Staatswesens sind. Doch die eigentliche Frage ist, inwieweit unterschiedliche Individuen friedlich miteinander leben können.

Aus dem Arabischen von Stephanie Gsell