Monsunkröten und Rosenschlösser

In ihrem neuen Roman verknüpft Shumona Sinha ihre Kindheitserinnerungen aus dem indischen Kalkutta mit der Geschichte Bengalens

Kalkutta – dort wollte die Autorin nicht mehr hin, in diese unter „der Sonne wie ein schmutziges Eis“ schmelzende „Pythonschlange“. Nun tut sie es doch, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen, um in „seinen violetten schmerzverzerrten Mund ein wenig zerstoßenen Reis mit Milch“ zu geben, um religiöse Riten zu vollziehen, die er eigentlich sein Leben lang abgelehnt hatte.

Nach ihrem sensationellen Erfolg mit „Erschlagt die Armen!“, vielfach ausgezeichnet und zuletzt mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt bedacht, legt die Schriftstellerin Shumona Sinha nun eine Familiensaga vor. In Paris, wo sie seit 2001 wohnt, ereilt sie die Nachricht vom Tod des Vaters wie eine Rettung. In Frankreich ist ihr Leben ein „Chaos“, weil der Mann, den sie liebt, sie „verstörter, durstiger, unsicherer“ zurücklässt. Nun landet sie als Ich-Erzählerin in Kalkutta und verwandelt sich alsbald in die Protagonistin Trisha, vielleicht um leichter von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen. Biografie und Fantasie verschmelzen fortan.

Trishas Geschichte beginnt im Haus ihrer Kindheit in Bengalen, Indien. Hier ziehen ihre Erinnerungen vorbei: Der Fleck auf der weißen Wand erinnert an den Vater, der sich in einem Sessel sitzend stets nach hinten anlehnte. Der Brunnen im Hof lässt Trisha an den geliebten Kater denken, der dort sein Leben ließ. Den Esstisch brachte der erfindungsreiche Vater auf die Veranda und damit die Familie vom Lotussitz auf dem Boden zum Essen an den Tisch. Die Hausangestellten ereilte ein ähnliches Schicksal: Sie durften nicht mehr auf der Erde sitzend Gemüse schälen, sondern mussten fortan vor der Küchenspüle stehen. „Von der Horizontalen in die Senkrechte“, nennt die Autorin diese Veränderungen.

Die Protagonistin taucht in drei Familienbiografien ein: zunächst in jene ihrer depressiv-melancholischen Mutter Urmila, die sich in ihrer Familie als Last erlebt. Ihre Gedanken hingen einst an der Liebe zu einem kämpferischen linksradikalen Studenten. Da kam Shankhya, Trishas Vater, der sie heiraten will. Doch auch die Vermählung brachte keinen Trost. Keine Liebe, keine Medikamente werden Urmila jemals heilen und vor den Irrungen ihres Geistes bewahren können, ihre Seele ist gekettet an einen tiefen Schmerz.

Es folgen die Kapitel „Monsunkröte“ und „Das Versinken der Göttin“, die  über die Jugend des Vaters erzählen, dessen Biografie eng mit der Geschichte Bengalens verknüpft wird. Shankhya hegt die marxistische Hoffnung seiner Zeit auf ein besseres Leben, einen Traum, der „wie missratener Alkohol vor sich hin gärt“. Der in einer Hütte aus Lehm und Stroh geborene und vaterlos aufgewachsene Junge avanciert zum Physikprofessor und Einsteinverehrer. Er schließt sich linksrevolutionären Maoisten an, sieht, wie kommunistische Weggefährten unter der unnachgiebigen Herrschaft Indira Ghandis ihr Leben lassen.

Neben russischer Literatur und Büchern über den Guerillakrieg hat er auch einen Revolver, den er neben alten Vorlesungsblättern, Schlafmitteln und Antidepressiva der Mutter in einem schwarzen Aktenkoffer, der „Monsunkröte“, versteckt hält. Die blutigen Religionskämpfe Indiens zwischen Hindus und Moslems fließen in die Erzählung mit ein. Mit der dritten Biografie, der Großmutter Annapurna und deren Vorfahren, lässt Shumona Sinha das alte Indien auferstehen, mit seinen Düften nach Kurkuma und Gewändern und Flüssen und Ganesh-Tempeln, eine vergangene Zeit kupferner Badewannen und Mogulöls, reich an Sinnlichkeit und Erotik. Dies ist vielleicht der spannendste und schönste Teil des Buches. Das Kapitel „Annapurna und der Zentaur-Fürst“ führt weg von der einsamen, kriegerischen Außenwelt in die verzauberte Welt der „Golap-Bari“, ins Rosenschloss, in dem sich Fürsten und Kurtisanen im Liebesspiel verlieren: „Eine dünne Goldkette lag um ihre Taille, eine zitternde Linie auf den beiden kleinen, kupfernen Rundungen, die ihm den Verstand raubten“, heißt es da und als Leserin ist man längst eingetaucht und hat sich den Verstand ebenfalls rauben lassen.

Für „Kalkutta“ hat Shumona Sinha eine mythische, sphärische Erzählweise erfunden, die Gegenwart und Vergangenheit als eins begreift, weil die Erinnerung ohnehin verfälscht und trickst, aber auch weil die Chronologie, das Ticken der Uhr, nie die ganze Wahrheit erzählen kann. Puzzlestücke eigenen Erlebens, Geschichten der Eltern und der Großmutter verwebt die 1973 in Kalkutta geborene Autorin mit ihrer Vorstellungskraft zu farbenprächtigen Stoffen. Sie zieht den Leser in prunkvolle Paläste, lässt Fürsten und Kurtisanen, die Baiji, auferstehen und betört die Sinne mit rotem Hibiskusöl. So entfesselt Shumona Sinha einen magischen Erzählsog. Dieses knapp 190 Seiten umfassende Buch verführt durch seine bildreiche, duftende Sprache. Manchmal ist der Leser verwirrt ob der vielen Personen und Geschichten, aber es ist wie in „Tausendundeiner Nacht“: Wir nehmen auf Großmutter Annapurnas Schoß Platz und lassen uns von ihren Geschichten berauschen. „Kalkutta“ ist ein persönliches, packendes Buch voller poetischer Kraft und sprachlichem Wagemut.

Kalkutta. Von Shumona Sinha. Edition Nautilus, Hamburg, 2016.