Ich und alle anderen

Einzelkämpfer

Weshalb das Gemeinschaftsgefühl der Palästinenser immer mehr geschwächt wird

Jeden Sommer verlasse ich meinen Wohnort Berlin und reise nach Jerusalem und Ramallah. Auch dort bin ich zu Hause und arbeite als Gastprofessorin an der Birzeit University. Die Motivation dafür geben mir die Studenten und alles, wofür sie stehen. Im Grunde sind sie meine einzige Verbindung zu Palästina und der andauernden verzweifelten Lage dort.

Die meisten der Studenten sind Anfang Zwanzig und mussten enorme Hindernisse überwinden, um eine Universität besuchen zu können. Sie kommen aus unterschiedlichen Landesteilen, zwischen denen man nur noch schwer hin und her reisen kann. Nach den Verhandlungen von Oslo 1993 wurde die Kontrolle über mehrere wichtige palästinensische Städte vom israelischen Militär an die Palästinensische Autonomiebehörde übergeben. Die palästinensische Gesellschaft war in einer völlig neuen Gebietsaufteilung gefangen.

Die israelischen Behörden kontrollieren jetzt die Bewegungen der Palästinenser zwischen den Städten anstatt, wie es einige Jahrzehnte lang zuvor der Fall gewesen ist, jene innerhalb der Städte. Ein Raum, in dem sich die Menschen vorher frei bewegen konnten, wurde in verschiedene Zonen unterteilt (Zone A, B und C) und an den Verbindungswegen zwischen ihnen wurden Kontrollpunkte und acht Meter hohe Mauern errichtet. Diese trennen in Wirklichkeit weniger Palästinenser und Israelis voneinander als vielmehr Palästinenser von anderen Palästinensern. In andere Städte oder Regionen zu reisen, ist sehr schwer geworden, wenn nicht völlig unmöglich.

Zugleich hat dieses Vorgehen der Behörden dazu geführt, dass sich die israelische Besatzung für die Palästinenser von einem kollektiven zu einem individuellen Problem entwickelt hat. Meinen Studenten fällt das zum Beispiel auf, wenn sie einen Kontrollpunkt überqueren, durch ein Drehkreuz, das man nur einzeln passieren kann. Oder wenn sie in einem Auto in der Schlange am Checkpoint warten. Natürlich haben sie keine Zeit zu verlieren und wollen den Kontrollpunkt möglichst schnell und vor anderen Wartenden überqueren. Manche drängeln sich vielleicht sogar vor, wenn sie dringend irgendwo hinmüssen.

Die feindseligen Gefühle, die sich dabei einstellen können, richten sich manchmal mehr gegen andere Palästinenser als gegen die israelischen Soldaten. Man versucht, seinen Platz zu verteidigen, und kocht vor Wut, wenn einen jemand anrempelt oder sich vordrängeln möchte: „Glaubst du etwa, du bist was Besseres? Dass das, was Du vor hast, wichtiger ist als das, was ich zu tun habe?“ Ein Student erinnert sich, wie vor einigen Jahren ein Mann, von Beruf Metzger, einen anderen Mann mit einem Messer erstach, nachdem er versucht hatte, ihn am Qalandia Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah zu überholen.

Die Besatzung beeinträchtigt das Leben jedes Einzelnen, jeden Moment, jede Bewegung. Selbst wenn meine Studenten versuchen würden, ihre Erfahrungen außerhalb des Klassenraums zu ignorieren, würden diese dennoch in aller Heftigkeit in den Unterricht eindringen. Es ist unmöglich, über irgendetwas zu reden, irgendein Thema zur Diskussion zu stellen, ohne dass ihr Leben im Schatten der israelischen Besatzung dazwischentritt.

Diskussionen über den palästinensischen Alltag scheinen unvermeidlich in unseren Seminaren, in denen es um moderne europäische Ideengeschichte und Denker wie Immanuel Kant, John Locke, John Stewart Mill und Karl Marx geht. Sie haben sich mit Begriffen wie Wahrheit, dem Wert des Lebens und Bewusstseins eines jeden Einzelnen, Freiheit und Gerechtigkeit beschäftigt. Wenn wir zum Beispiel über den Begriff der Freiheit sprechen, sucht die Studenten zwangsläufig der Gedanke an die eigene Unfreiheit heim. Einige von ihnen verpassen den Unterricht, weil sie an einem Kontrollpunkt aufgehalten worden sind. Andere hält die israelische Armee fest, um sie vom Geheimdienst befragen zu lassen. Manche liegen sogar viele Wochen im Krankenhaus, weil sie bei einer Demonstration angeschossen worden sind.

Diese Erfahrungen scheinen sich in persönliche Probleme verwandelt zu haben, anstatt als systematische Form der kollektiven Unterwerfung verstanden zu werden. Weil es so schwer für sie ist, zwischen den Städten hin und her zu fahren, fühlen sich manche Studenten abgeschnitten von der physischen und psychischen Zerstörung der Palästinenser in anderen Regionen. Im besten Fall sind sie zu Zuschauern dieser Zerstörung gemacht worden. „Was kann man tun, wenn man in so einer Situation gefangen ist, außer dabei zuzusehen, wie andere leiden?“ ist eine Frage, die viele meiner Studenten quält. Als Antwort, der in der Regel ein kurzes Schweigen vorhergeht, gestehen sie meist, sich ohnmächtig und verzweifelt zu fühlen. Aber sie gestehen auch ein, egoistisch zu sein.

Fast alle sind sich einig, dass die palästinensische Gesellschaft, besonders im vergangenen Jahrzehnt, dem Egoismus und der Angst um kleine Privilegien, die einige sich durch die sich rapide verbreitenden neoliberalen Werte versprechen, verfallen ist. In dem Bewusstsein, wie viel ihnen fehlt, hoffen sie heute nichts weiter, als ihr Studium beenden zu können, eine Arbeit zu finden und zu heiraten – nachdem sie mithilfe der von Hypotheken ein Auto und eine Wohnung gekauft haben. Sich mit dem Allgemeinwohl auseinanderzusetzen oder darauf hinzuarbeiten, ist ein zaghafter, wenn nicht naiver Gedanke geworden.

Mehrere Studenten sind bei unseren Diskussionen zu dem Schluss gekommen, dass die neuen, bescheidenen Träume – ein Auto zu kaufen, mit dem man ohnehin nicht sehr weit fahren kann, und eine Wohnung, die von der israelischen Armee zerstört oder bombardierte werden könnte — die größeren Träume von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit für jeden Einzelnen verdrängt haben. Andere haben mit Galgenhumor angemerkt, dass in jeder dieser Wohnungen mindestens ein Plasma-Fernseher zu finden sei, auf dem man mitverfolgen könne, wie andere palästinensische Städte wie Gaza oder Hebron bombardiert würden. Dabei fühle man sich unnütz und wie gelähmt, als wäre einem die Fähigkeit abhanden gekommen, sich zwischen der Sphäre der eigenen Interessen und der Sphäre der gegenseitigen Fürsorge, die die palästinensische Gesellschaft früher gekennzeichnet hat,  hin und her zu bewegen.

Noch vor zehn Jahren war die Vorstellung eines Kollektivs die Stärke, die es den Palästinensern ermöglichte mit der israelischen Besatzung umzugehen. Die Studenten sagen offen, dass den Bewohnern des Westjordanlandes eingetrichtert wurde, sich nur noch mit den eigenen Interessen zu befassen. In den vergangenen Jahren wurde das Land mit privaten und internationalen Geldern überflutet, um kleine Unternehmen zu schaffen. Das beförderte diesen Geist. Außerdem hat die Palästinensische Autonomiebehörde mit Unterstützung internationaler Finanzhilfen Tausende von Arbeitsplätzen in ihren Einrichtungen geschaffen, wobei viele dieser Angestellten ihre Zeit hauptsächlich mit Rauchen und Teetrinken verbringen.

Sie sind absolut überflüssig und werden, wie einige Studenten es formuliert haben, von vornherein dafür bezahlt, ineffizient zu sein. Dabei verhindern sie einen gesellschaftlichen Fortschritt. Trotzdem verdienen sie genug, um zu konsumieren, einen Kredit aufzunehmen und eine Wohnung zu kaufen, was man einige Jahre zuvor noch als überflüssigen Luxus betrachtet hätte. Heute findet sich kaum jemand in Ramallah, der keinen Kredit hat, der ihn über viele Jahre hinweg an eine Bank bindet. Private Hypotheken, sagen meine Studenten scherzhaft, gehören zu den größten Unterstützern der Regierung des Präsidenten Mahmoud Abbas.

Mit viel Mühe könnte dieses neoliberale Modell vielleicht an einem Ort funktionieren, an dem es auf der Voraussetzung von Gleichheit und Freiheit basiert. In Palästina dagegen hat es allenfalls zu einer Normalisierung des Lebens unter Besatzung und in Unterdrückung geführt. Ich für meinen Teil beobachte nur die wachsende Verzweiflung und wie die Situation immer schlechter und schlechter wird, während ich zwischen Deutschland und Palästina pendele. Die einzige Veränderung besteht in den immer neuen Methoden der Unterdrückung und Entmenschlichung: Die Palästinenser werden vor irgendwelchen Checkpoints in Schlangen gezwängt, sie werden – je nach Ausweis – sortiert. Es gibt Pläne für eine neue Mauer um den Gazastreifen herum, die auch unterirdisch verlaufen soll. Außerdem wird die Arbeit israelischer Menschenrechtsgruppen zusehends überwacht und eingeschränkt. Gerade sie sind es, die auf die Unterdrückug und Unmenschlichkeit aufmerksam machen. Und trotzdem: Wenn ich den Seminarraum betrete, umgeben von meinen Schülern, ihren Fragen und ihrem kritischen Geist, ist das Gefühl der Verzweiflung

Aus dem Englischen von Stephanie Kirchner