Die Grenzen der Wirklichkeit

In Ägypten wird es für Schriftsteller immer schwieriger zu wissen, ob ihre Werke sie auf die Bestsellerlisten oder ins Gefängnis bringen

Seit Februar 2016 sitzt der junge ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji im Gefängnis. Wegen „Störung des öffentlichen Anstands“ wurde er zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Leser hatte nach dem Vorabdruck des sechsten Kapitels von Najis Roman „Der Gebrauch des Lebens“ in der Kairoer Literaturzeitschrift Achbar al-Adab im Sommer 2014 gegen den Autor Anzeige erstattet. Beim Lesen hätte er solch einen Schreck bekommen, dass sein „Blutdruck angestiegen und sein Puls unregelmäßig geworden“ sei.

„Der Gebrauch des Lebens“ erzählt aus der Ich-Perspektive die Erlebnisse von Bassam, einem jungen Mann, der in einem albtraumhaften Kairo der Zukunft lebt. Er arbeitet, verliebt sich, hat Sex, experimentiert mit Drogen und gerät mit anderen in Konflikt. Nach der Veröffentlichung stand plötzlich jene uralte Frage wieder im Raum: Wer ist das eigentlich, der hier in der Ich-Person spricht? Ist es der Bürger Ahmed Naji, der sich hinter einer Kunstfigur versteckt? Oder ist es die Romanfigur Bassam?

Der Kläger war der Ansicht, dass es sich bei dem Text um eine Reportage handelt, in der der Autor wahre Begebenheiten schildert, die niemand anderem als dem Verfasser des Artikels zuzuschreiben sind, weswegen es dem Gesetz zusteht, diesen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Ahmed Najis Verteidiger hingegen argumentierte, dass es sich um einen künstlerischen und zudem aus dem Kontext eines Romans gerissenen Text handelt. Dieser schildere Handlungen, die eine fiktive, von der Person des Autors gänzlich getrennte Figur vollzieht. Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Lesarten des Erzähl-Ichs zu tun, die in diesem Rechtsfall gegeneinander stehen. Ein Rechtsfall, in dem das der Literatur ureigene Recht, Subjekte neu zu erschaffen, infrage gestellt wird.

Von literarischem Schreiben kann man aber erst dann sprechen, wenn ein anderes Ich als das des Schreibers, ein neues Subjekt unter den Kräften des Schreibens geformt wird. Von daher fällt es nicht schwer, jenem Leser, der Naji angezeigt hat, zu glauben, wenn er sagt, dass er eine gestörte Herzfrequenz und einen erhöhten Blutdruck empfunden habe. Denn genau darauf wettet die Literatur: dass das Wort trotz all seiner Zerbrechlichkeit imstande ist, zu verändern und zu beeinflussen. Wahres Lesen heißt, bereit zu sein, sich selbst loszulassen und die einem Text innewohnende Einladung zur Veränderung anzunehmen. Dem Leser steht es frei, sich auf diese Einladung einzulassen oder nicht.

Wieso wurde gerade jetzt dieses Urteil gegen Ahmed Naji ausgesprochen? Ist es die gegenwärtige politische Lage? Oder zeichnet sich eine Änderung im Geschmack der ägyptischen Gesellschaft ab, eine Hinwendung zum totalen Konservativismus? Werden wir in nächster Zeit Zeuge weiterer Gerichtsurteile gegen literarische Werke werden?

Es ist schwierig, verbindliche Antworten auf diese Fragen zu finden. Schließlich werden auch heute in Ägypten immer wieder literarische Werke veröffentlicht, die die Gesellschaft oder die Politik in die Mangel nehmen. Es gibt in Ägypten keine staatliche Zensurbehörde, der man literarische Werke vor ihrer Veröffentlichung vorlegen muss. Andererseits gibt es mehrere Fälle, in denen Autoren, aufgrund von Publikationen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden wie der Journalist und Religionswissenschaftler Islam al-Buhairi, der derzeit im Gefängnis eine einjährige Haftstrafe verbüßt, weil er in einer Fernsehsendung den Islam beleidigte.

Oder die Schriftstellerin Fatima Naoot, die ins Ausland gegangen ist, nachdem sie mit einer Anklage wegen Religionsbeschimpfung zu einer Haftstrafe verurteilt war. Auch hier waren die Auslöser Strafanzeigen durch Zuschauer und Leser. Wir haben es hier mit Rechtsfällen zu tun, die sich der Macht der Leserschaft und ihren Folgen stellen müssen. So gibt es jene Leser, die Autoren anzeigen, und andere, die einem Text zugestehen, den Lesenden zu ändern. Es gibt ein Lesen, das danach strebt, Mauern um die Wirklichkeit zu ziehen, und ein anderes, das die Grenzen der Wirklichkeit sprengen will.

Aber was sind die Urteilsmaßstäbe der Leser, jener ehrbaren Bürger, für literarische Werke? Keiner weiß es genau. Und eben das Nebulöse ist charakteristisch für die heutige Zeit in Ägypten. Wo es unmöglich ist, zu erfahren, ob man gerade eine Linie überschreitet oder nicht, wird es schwierig, den nächsten Schritt zu machen. Vielleicht kann man in einem Zeitungsartikel offen Kritik am politischen System äußern und es geschieht gar nichts. Es kann aber auch passieren, dass man einen Roman schreibt, in dem es eine Sexszene gibt, woraufhin man im Gefängnis landet. Das ist es, was wirklich Angst macht.

Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl