Ich und alle anderen

Der Blitz trifft immer Schwarze

Dem Rassismus gegen Afro-Amerikaner kann man derzeit in den USA nicht entkommen

Für schwarze Männer und Frauen sind diese Dinge nicht gewöhnlich:
ein kaputtes Rücklicht, eine Zigarette, ein Handy, ein Löffel,
Taschenmesser, Kapuzensweatshirt bei Hitze, Bonbons,
ein Spielzeugschwert, eine Spielzeugpistole im Sandkasten, ein Spielzeuggewehr in einem Laden

mit Spielzeuggewehren, ein schwarzer Geldbeutel – und, das Tödlichste von allen,
dein schwarzer Körper. Und auf der Fahrt mit einem Kleinkind hinten
drin sieht man deinen Liebsten am Steuer nicht als
den Vater auf dem Weg ins Restaurant, oder auf dem Rückweg von

den Großeltern, oder einfach als einen, der herumfährt, damit
sein Kind einschläft. Rennen, Joggen oder einfach nur
Dasitzen sind keine gewöhnlichen Dinge. Wenn das Blaulicht flackert, entscheidet alles
Gewöhnliche die Frage: Leben oder Tod.


Ich schrieb dieses Gedicht, nachdem Philando Castile von dem Polizeibeamten Jeronimo Yanez in Falcon Heights im US-Bundesstaat Minnesota erschossen worden war. Yanez hatte ihn am 6. Juli 2016 angehalten, weil eines der Rücklichter seines Autos kaputt war. Eine ganz banale Routinekon­trolle, und danach war Castile tot.

Emily Dickinson war der Auffassung, dass ein gutes Gedicht aus etwas Gewöhnlichem etwas Außergewöhnliches macht. Wenn man diesen poetischen Gedanken aber rassifiziert, so wird der gewöhnliche Umstand, dass jemand schwarz ist, außergewöhnlich. Die Gewöhnlichkeit erlaubter Alltagsaktivitäten wird außergewöhnlich.

Castile fährt mit seiner Freundin und ihrer sechsjährigen Tochter nach Hause – das denkbar gewöhnlichste unter den erlaubten Dingen – und das Nachhausefahren wird außergewöhnlich. Wo normalerweise ein freundlicher Beamter mit der Sechsjährigen herumgealbert hätte, um dann schlimmstenfalls einen Strafzettel für das kaputte Rücklicht zu schreiben oder bestenfalls eine mündliche Verwarnung zu erteilen, kommt es zu einer tödlichen Begegnung.

Philando Castile hatte das Recht, eine Waffe dabeizuhaben, Amadou Diallo hatte das Recht, eine Geldbörse dabeizuhaben, Trayvon Martin hatte das Recht, Bonbons dabeizuhaben, John Crawford hatte das Recht, eine Spielzeugpistole dabeizuhaben – in einem Bundesstaat, in dem man das Recht hat, offen Waffen zu tragen, auch in einem Laden, der Spielzeugwaffen verkauft. Für diese vier wurde das Gewöhnliche durch Weiße zu einer außergewöhnlichen Bedrohung.

Mein Verstand sagt mir, dass das Risiko, dass ich in den USA als Mensch schwarzer Hautfarbe durch die Schüsse eines Rassisten sterben werde, gering ist – das heißt, dass das Risiko, dass genau ich der schwarze Mensch bin, der zu genau der Zeit an genau dem Ort von genau dem Polizisten gestoppt wird, der mich erschießen wird, gering ist. Aber stellen Sie sich ein Gewitter vor, dessen Blitze ausschließlich Schwarze treffen. Da ist es kein Trost, wenn man weiß, dass das Risiko, derjenige zu sein, der vom Blitz erschlagen wird, nicht sehr hoch ist. In den USA schwarz zu sein ist in etwa so, als würde man sich an einer perversen Lotterie beteiligen, bei der man, statt zu gewinnen, lediglich die Chance hat, nicht zu verlieren.

Das ist das Extreme, das Außergewöhnliche. Es gibt vielerlei Arten von kleineren, breiter gestreuten, nicht tödlichen Blitzschlägen – Philando Castile war im Laufe von 14 Jahren 49 Mal von der Polizei angehalten worden. Und die Statistiken legen nahe, dass in den Vereinigten Staaten schwarz zu sein bedeutet, dass man mit dem Erbe der Sklaverei leben muss. Der Blitzschlag ist vielleicht nicht tödlich, aber er schlägt Wunden und reißt Flügel ab.

Natürlich kann man auf verschiedene Arten schwarz sein. In seinem nützlichen, wenn auch fehlerhaften Buch „Disintegration“ unterscheidet der Journalist Eugene Robinson vier Formen schwarzer Existenzen – „eine  der Mittelschicht angehörende Mehrheit mit vollwertiger Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft“… „eine große, abgehängte Minderheit, die heute weniger denn je in der Zeit nach dem Ende der Sklaverei eine Chance hat, der Armut und der Hoffnungslosigkeit zu entkommen“… „eine kleine, über allem stehende Elite, die über so gewaltigen Reichtum, Macht und Einfluss verfügt, dass sogar Weiße vor ihnen buckeln müssen“ und „zwei sich neu herausbildende Gruppen – Menschen gemischter Abstammung und Gemeinschaften neuer schwarzer Einwanderer, angesichts derer wir uns fragen, was ‚schwarz‘ eigentlich bedeutet“.

Als Amerikaner kenianischer Abstammung gehöre ich zu der sich neu herausbildenden Gruppe, aber das ist kein Trost. Amadou Diallo aus Guinea wurde 1999 von 41 Schüssen getroffen, als er nach dem gewöhnlichsten aller Dinge griff – seiner Geldbörse.
Es stimmt, dass es viele schwarze Identitäten gibt, die wir in all ihren Widersprüchen feiern sollten. Aber manche Blitze treffen vorwiegend schwarze Menschen.

Da ist es auch kein Hilfe, dass der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Donald Trump, nach jedem Maßstab ein Rassist, Sexist und Fremdenfeind ist. In diesem Amerika ist es weniger wichtig, was für eine Art Schwarzer ich bin – Einwanderer, Afroamerikaner oder von gemischter Abstammung. Der Terror des Rassismus bringt uns alle zusammen.

Lassen Sie mich folgendermaßen schließen: Das eine Mal, bei dem ein Polizeibeamter eine Waffe auf mich richtete, war nicht in den Vereinigten Staaten. Es geschah vergangenes Jahr in Deutschland. Wir hatten bis spät abends mit Schriftstellerfreunden zusammengesessen und fuhren zurück ins Hotel. Der Taxifahrer betätigte versehentlich den Notfallknopf. An einer rote Ampel klopft ein deutscher Polizist mit gezogener Waffe an die Scheibe. Wir haben vielleicht überlebt, weil er beim Blick ins Taxi nur ein paar ausgelassene, angetrunkene Schriftsteller sah – eine Art Familie.

Aber ich bin sicher, dass in New York, unter denselben Umständen, der Blitz wieder Schwarz getroffen hätte. Rassismus ist eine farblich codierte Gewissheit, und Beliebigkeit erzeugt Terror. Rassismus ist Terrorismus.
 

Aus dem Englischen von Caroline Härdter