Der ach so schöne Westen

Wie mich die derzeitige Angst vieler Europäer vor dem Fremden an die Sowjetideologie meiner Kindheit erinnert

Auf dem Schwarzen Meer, das ich in meiner Kindheit in den 1980er-Jahren aus einem Hotelzimmer in Batumi sehen konnte, hielt die sowjetische Marine mit riesigen Scheinwerfern nach denjenigen Ausschau, die im Schutz der Dunkelheit versuchten, der Sowjetunion zu entkommen. Die Armee begann um zehn Uhr abends an, an den Küstenstreifen zu patrouillieren. Vom Schwimmen im Meer konnte keine Rede sein – das nächtliche Baden war gleichbedeutend mit dem Verrat an der Sowjetunion, da angenommen wurde, man wollte über das Meer fliehen. Heutzutage bewacht die EU ihre Außengrenzen ähnlich akribisch, damit bloß nicht zu viel Fremdes hereinkommt.

Das Hotel in Batumi hieß Medea. Es trug den Namen jener Frau, die in der Antike vor König Aietes über das Schwarze Meer floh. Sie war die erste Kolcherin, die das Meer überquerte und den strengen Kaukasus hinter sich ließ. Die Georgier sind davon überzeugt, dass Euripides Medea zu Unrecht des Kindsmordes bezichtigte. Ihrer Meinung nach hatte sie sich schon genug anderes zuschulden kommen lassen. 2007, im nun unabhängigen Georgien, hatte Präsident Micheil Saakaschwili in Batumi ihre Statue feierlich enthüllt, und auf die Frage, wieso ausgerechnet sie zu solch einer Ehre käme, geantwortet, dass Medea die erste Emigrantin und die erste geflüchtete Georgierin war, der man Unrecht getan hatte. Abgesehen davon hätte sie für die Touristen einen leichten Wiedererkennungswert.

Die Sowjetunion stellte mit ihren künstlich zusammengehaltenen sozialistischen Republiken und ihren geschlossenen Grenzen geografisch einen schier unüberschaubaren Staat dar. Über Jahrzehnte hinweg lautete die herrschende Ideologie: Der ach so schöne Westen (das Ausland) ist in Wirklichkeit böse und chaotisch; der sowjetische Bürger könnte die Fremde und das Fremdsein nie ertragen und fiele zwangsläufig dieser fremden und ihm feindselig gesinnten Welt anheim. Als während der Perestroika immer mehr Sowjetbürger die Möglichkeit bekamen, in den Westen zu reisen, wurden sie stets von diesen ideologischen Ängsten begleitet.

Beispielsweise hatte meine Großmutter meinem Großvater am Jackett eine Extratasche angenäht, in der er, nachdem er sein Geld gewechselt hatte, einen gewissen Betrag aufbewahren sollte. Solche geheimen Taschen wurden wie Talismane oder Schmuck unter dem Jackett oder unter dem Hemd getragen, denn es wurde angenommen, dass es im Westen besonders leicht war, sein Geld zu verlieren. Es war nicht unbedingt die Angst vor dem Verlust des Geldes als vielmehr die Angst davor, mittellos in der Fremde dazustehen. Die große sow­jetische Neurose: Du bist allein und mittellos in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, und niemand kommt dir zu Hilfe.

Nach Meinung der Kreml-Ideologen brauchte der Sowjetbürger den Westen gar nicht, denn sein eigener fiktiver Westen reichte ihm allemal: So stellte Georgien für die Russen ihr Europa dar, genauer gesagt ihr Südeuropa – durch die Sonne und das Meer vergleichbar mit Italien. Obwohl die meisten von ihnen Italien nie gesehen hatten, waren sie fest davon überzeugt, dass es genauso sein müsste wie ihre sowjetische Nachbarrepublik – voller Temperament und Testosteron. Für die rührseligen Russen war Georgien selbst innerhalb der Sowjetunion das Land der freien Menschen.

Dabei ist es gar nicht so lange her, da suchte der Homo sovieticus gerade in Georgien nach der (süd-)europäischen Freiheit, doch letztendlich blieb ihm von dieser Freiheit nur dessen Illusion, das simulative Glück, denn in der Sowjetunion waren weder die Freiheit noch das Europa echt. Ich bezweifle derzeit sehr, dass es ein echtes Europa gibt, denn es verspielt seine Sympathien durch zunehmende Abschottung.

Die Sympathie der Russen ihrem Mini-Europa Georgien gegenüber kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und begann bereits im 19. Jahrhundert. Besonders durch die Emigration russischer Schriftsteller in den Kaukasus – allen voran durch die Werke Puschkins, Gribojedows und Lermontows – konnte es erst zu einer literarischen Verarbeitung dieses historischen, aggressiven Liebesaktes zwischen Besatzer und Besetzten kommen. Dieser Liebesakt wird auch heute noch fortgeführt, nur in einer anderen Form: Als Zeichen seiner Liebe lässt das putinsche Russland in Georgien – dem kaukasischen Italien, dessen Natur und Poesie es so liebt – auf dem Territorium der okkupierten Gebiete von Abchasien und um Tchinvali herum Jahr für Jahr eine neue Militärbasis eröffnen. Wie vor einem tödlichen Gift fürchtet sich das heutige Russland vor seinen erfolgreich oder erfolglos europäisierten Nachbarländern.

Das Schwarze Meer ist längst nicht mehr abgeschottet und mein Vater lässt schon lange keine Taschen mehr an sein Jackett nähen, wenn er irgendwohin reist. Er sieht sich in Georgien als Teil Europas. Doch manchmal habe ich den Eindruck, dass ausgerechnet dort, in Europa, wo universelle Grundwerte und Stabilität Beständigkeit haben sollten, ebenjene Ängste erkennbar werden, mit denen die ­sowjetischen Ideologen einst ihre Bürger indoktriniert haben: etwa die Angst vor dem Fremdsein, die Angst vor der Vielfalt und die Angst vor herbeigeredeten Gefahren, die die Erkenntnis der eigentlichen Probleme erschwert. Dieses Verstecken hinter den eigenen Ängsten wird jedoch niemandem etwas Gutes bringen. Geschlossene Räume haben nie Perspektiven geboten und sie werden es auch nie tun.