„Das Böse ist ein fester Instinkt des Menschen“
Der deutsch-irakische Autor Najem Wali hat eine Kulturgeschichte des Terrors geschrieben. Ein Gespräch über das Morden als historische Konstante
Herr Wali, Sie sind für Bücher wie „Bagdad Marlboro“ und „Engel des Südens“ bekannt, in denen Sie Geschichten aus Ihrem Geburtsland Irak erzählen. Mit „Im Kopf des Terrors“ legen Sie nun eine Kulturgeschichte des Terrorismus vor. Wie kam es zu der Themenwahl?
Vor zwei Jahren trat die Akademie Graz an mich heran, um mich für eine Vortragsreihe zu gewinnen. Das Thema sollte ich selbst festlegen. Damals schwebte mir vor, über Exil und Literatur zu reden. Doch dann kam der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Meine Freundin sagte: Jetzt müsstest du eigentlich über den Terrorismus sprechen. Und ich fand, dass sie recht hatte. Schriftsteller verstecken sich oft hinter sich selbst, sinnieren über ihr eigenes Leben und ihren Alltag, so wie ich es bisher auch getan habe. Aber das darf man nicht ausschließlich tun. Hin und wieder sollte man über den Tellerrand schauen, seine Worte den aktuellen Ereignissen widmen und so Verantwortung übernehmen.
Ist das auch der Grund dafür, dass Sie ausnahmsweise ein Sachbuch und keinen Roman geschrieben haben?
Mit Sicherheit. Die Welt dreht sich einfach schneller, als ich einen Roman schreiben kann. Zudem ist es ungleich schwerer meinen Protagonisten etwas in den Mund zu legen, als es einfach selbst zu sagen. Im Roman agiere ich klassisch: Ich verstecke das, was ich sagen will, am liebsten. Der Leser soll die Aussage finden und die Aussage soll wiederum zeitlos sein, also immer gelesen und verstanden werden können. Ein Sachbuch erlaubt es mir, direkter zu sein, wobei ich trotzdem nicht sagen würde, dass „Im Kopf des Terrors“ ein reines Sachbuch ist.
Sondern?
Ein literarisches Sachbuch. Vielleicht habe ich diesen Begriff gerade erfunden, aber er bringt es für mich am besten auf den Punkt. Ich versuche, mich den Themen Terrorismus und Gewalt in dem Buch vonseiten der Literatur aus zu nähern. Es geht um die Geschichte des Mordens, nicht von einer wissenschaftlichen Warte aus betrachtet, sondern durch die Brille von klassischen Autoren gesehen, die sich bereits vor Jahrzehnten und Jahrhunderten mit diesem Thema beschäftigt haben. Weil wir den Terror oft als ein Phänomen der jüngeren Gegenwart verstehen und vielleicht auch verstehen wollen, ist mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten, dass er schon immer Stoff für die großen Literaten gewesen ist.
So auch für Jean-Paul Sartre, dessen Erzählung „Erostrate“ Sie zu Beginn des Buches zitieren.
Das ist kein Zufall. Das erste Mal musste ich an „Erostrate“ denken, als ich die Terroranschläge vom letzten November in Paris im Fernsehen verfolge. Ich sah Bilder von Männern, die auf die Straße gingen und wahllos Menschen erschossen, und war im Kopf gleich bei Paul Hilbert, Sartres Protagonisten. Hilbert führt ein eintöniges Leben in Paris, wohnt allein in einem kleinen Apartment und blickt aus der sechsten Etage auf die Straßen und die Menschen der Stadt hinunter – im wahrsten Sinne des Wortes. Er entwickelt einen diffusen Hass auf die Menschen da unten. Irgendwann kauft er sich einen Revolver und kommt zu dem Schluss, dass er damit hinausgehen und Leute erschießen will.
Bevor er das tut, setzt er allerdings ein Bekennerschreiben auf. Als ein „völlig unpolitischer Akt“ sei seine Tat zu verstehen, schreibt er.
Genau, Hilbert hat kein Motiv, außer seinem Ekel vor den Menschen, die er „gleichgültig kauen“ und „gleichzeitig mit der linken Hand in einer Börsenzeitschrift blättern“ sieht. Das macht sein Verbrechen umso schwerer verständlich für die Außenwelt. Aber gerade das ist der Kern der Geschichte und daher wohl auch der Kern dessen, was Sartre uns mit auf den Weg geben will: Morden ist ein singuläres Phänomen. Der Ansatz, den Mord stets durch politische oder so wie heute durch religiöse Motive erklären zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Übrigens: Hilbert schreibt in seinem Brief auch den Satz „Ich hasse Menschen.“ Wissen Sie, wo dieser Satz noch steht? In dem Manifest, das Ali David, der Attentäter aus München, verfasst hat.
Was die Täter eint, ist Ihrer Meinung nach vor allem ein menschenverachtender Hass. Vor diesem Hintergrund bezeichnen Sie die Motivsuche als einen Fetisch, als „eine ‚deutsche‘ Form der geistigen Verirrung“. Gehen Sie damit nicht ein wenig zu weit?
Das ist zweifelsohne sehr hart formuliert, was ich sagen möchte, hat aber Bestand: Kein Terrorakt kann aufgrund von Motiven schwerer oder leichter wiegen. Mord bleibt Mord, egal welche Rechtfertigungen wir im Nachhinein aufdecken. Aber hierzulande scheint es mitunter eine Hierarchie des Mordens zu geben. Ein Amoklauf ist zum Beispiel anders zu bewerten als ein Terroranschlag. Ein anderes Beispiel: Tötet ein Türke aus Eifersucht seine Frau, dann ist das ein „Ehrenmord“, tötet ein Deutscher aus Eifersucht seine Frau, dann ist das eine „Familiendrama“. Wir benutzen ein Vokabular, das die Motive wichtiger erscheinen lässt als den eigentlichen Akt des Tötens.
Ist es nicht trotzdem dringend notwendig, Motive zu verstehen, um gegebenenfalls weitere Anschläge verhindern zu können?
Wenn die Aufdeckung der Motive hauptsächlich zur Prävention weiterer Anschläge genutzt würde, dann begrüße ich das selbstverständlich. Mir scheint aber etwas ganz anderes der Fall zu sein, nämlich, dass man sich die Motive in der Politik und in den Medien so zurechtlegt, wie sie am besten passen, um eigene Standpunkte zu untermauern. Der Attentäter von München war angeblich ein Amokläufer, der Junge, der in Würzburg mit der Axt angriff – und übrigens eine Familie aus Hongkong als Opfer wählte –, ein islamistischer Terrorist. Im Fernsehen betreiben sogenannte „Terrorexperten“ nur Minuten nach einem Anschlag Ursachenforschung, im Internet missbrauchen AfD-Politiker den vermeintlich „muslimischen Namen“ eines Attentäters als Argument für die eigene Politik. Und am Ende ruft Ursula von der Leyen wegen der akuten Terrorgefahr nach einem Militäreinsatz im Inneren.
Befürchten Sie, dass der Terror unsere Gesellschaft spalten wird?
Mehr als der Terror hat der Umgang mit dem Terror das Potenzial uns zu spalten – die ersten Anzeichen dafür gibt es ja bereits. Schauen Sie sich an, wie Muslime heute unter Generalverdacht geraten, selbst wenn sich ein Täter, wie der aus München, im Nachhinein als Rechtsextremer herausstellt. Wir müssen es vermeiden, hysterisch zu werden. Was uns die Literatur lehrt, und das arbeite ich in „Im Kopf des Terrors“ heraus, ist, dass Terror keine Frage von Hautfarbe, Religion oder Überzeugungen ist.
In Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ befiehlt ein frankistischer General seinen Männern, die Feinde zu köpfen. Dann segnet er sich. Hat ihn seine Religion etwas Barbarisches tun lassen? Oder hat er etwas Barbarisches getan, was er im Nachhinein durch Religion zu rechtfertigen sucht? Schauen Sie sich den „Islamischen Staat“ an, der Terrorakte für sich beansprucht, die von Menschen begangen wurden, die oft nicht mehr als einen Islam-Crashkurs gemacht, zweimal im Koran geblättert oder sich ein YouTube-Video angeschaut haben. Hilft uns dieses Pochen auf Motive? Oder trägt es nur dazu bei, unsere Vorurteile weiter zu schüren?
Was auffällt, ist, dass Sie sowohl im Buch als auch im Gespräch ständig zwischen den Worten „Mord“ und „Terror“ hin und her wechseln. Halten Sie die Konzepte für austauschbar?
Um meine Position dazu zu verdeutlichen, stelle ich im Buch zwei Biografien gegenüber. Zum einen ist da ein junger Deutscher, der mit seinen Freunden zusammen nach Syrien reist, um im Namen des IS zu morden. Irgendwann kehrt er zurück und muss sich vor Gericht für die Gräueltaten verantworten, die er begangen hat. Zum anderen erzähle ich von einem jungen Deutschen, der sich freiwillig der Fremdenlegion der französischen Armee anschließt. Auch er tötet im Ausland, aber als er nach fünf Jahren nach Deutschland zurückkehrt, wartet kein Richter auf ihn. Beide Männer haben sich dazu entschieden, für eine Organisation zu arbeiten, in der das Töten Routine ist. Sie wussten: Wenn ich das tue, werde ich morden. Aber nur einer von ihnen ist am Ende ein Terrorist.
Im Buch vertauschen Sie die Namen der beiden Männer bewusst.
Mein Verleger und mein Übersetzer dachten, ich hätte mich vertan, dabei war es volle Absicht. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Mördern? Schlussendlich nur ein Name, eine Formalie. Ich möchte zeigen, dass jeder Mörder in gewisser Weise ein Terrorist ist und jeder Terrorist längst das Potenzial zu morden in sich entdeckt hat. Waren die Männer, die für Hitler an die Front zogen, Mörder oder Terroristen? Spielt es eine Rolle?
Sie stellen viele Fragen, haben Sie auch Antworten?
Mein Buch soll nachdenklich machen, weil das Thema Terror komplex ist und wir uns zu oft mit einfachen Erklärungen zufriedengeben. Was ich für besonders gefährlich halte, ist, dass wir stets versuchen den Terror als etwas Unnatürliches darzustellen und die Terroristen zu entmenschlichen – entweder indem wir sagen, dass sie krank sind oder dass sie einer kranken Ideologie folgen. Dabei hat die Literatur das Töten längst als etwas zutiefst Menschliches entlarvt. Tiere töten nach Bedarf, nur der Mensch tötet willkürlich. Mit meinem Buch stelle ich heraus, was Autoren wie Sartre, Dostojewski und Büchner schon lange vor mir erkannt haben: Das Böse ist ein fester Instinkt des Menschen, das Gute ist nicht mehr als eine Haltung, die er lernen muss.
Der Terror als Teil der menschlichen DNA? Das klingt furchteinflößend.
Ich finde, das klingt nicht furchteinflößender als die Erklärungen, die wir uns momentan für den Terror zurechtlegen. Wenn nämlich wirklich alle Terroristen krank sind, dann müssen wir doch eine ganz schön kranke Gesellschaft sein. Indem wir das Böse auf diese Art und Weise entmenschlichen, sagen wir uns doch eigentlich nur von Verantwortung los. Dann macht es plötzlich keinen Unterschied mehr, ob wir Waffen ins Ausland exportieren oder ganze Regionen destabilisieren, in denen danach der Terror um sich greift, oder ob wir Saudi-Arabien unterstützen, ein Land, das den Wahabismus in alle Ecken der Welt exportiert. Dann ist all das nur eine Krankheit, die wir nicht zu verantworten haben. Ich finde es also sogar weniger beängstigend, den Terror, das Böse, als Teil von uns anzuerkennen. Ich halte es da mit einem alten nordamerikanischen Sprichwort: „Erzähl nie nur eine Geschichte, sonst kentert das Kanu.“ Ich höre lieber die ganze Geschichte, auch wenn sie wehtut, als mich mit Halbwahrheiten abspeisen zu lassen.
Werden wir nicht ohnehin weiter mit dem Terror leben müssen?
Selbstverständlich. Wenn uns die Literatur eines lehrt, dann dass der Terror eine Konstante ist. Erinnern Sie sich an den Griechen Herostrat, nach dem Sartre seine Erzählung von Paul Hilbert benannt hat. Herostrat brannte eines der sieben Weltwunder der Antike ab, den Tempel der Artemis von Ephesos, woraufhin man die Nennung seiner Tat und seines Namens verbot. Herostrat sollte für sein Verbrechen kein Ruhm zuteil werden – und doch hat sein Werk die Jahrhunderte überdauert.
Eher erinnert man sich an den Brandstifter als an den Architekten des Turms. Menschen werden solche Akte des Terrors also immer wieder begehen, früher wurden ihre Taten von Cicero überliefert, heute von den Massenmedien. Wie will man das verhindern? Für die Politik ist es natürlich allein aus dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger heraus sehr schwierig, so eine Erkenntnis zuzulassen. Die Literatur hat es da einfacher und deswegen ist es umso interessanter, sie hin und wieder zu solch großen Fragen zurate zu ziehen.
Im Kopf des Terrors. Vom Töten mit und ohne Gott. Von Najem Wali. Aus dem Arabischen von Markus Lemke. Residenz Verlag, Salzburg, 2016.
Das Interview führte Kai Schnier