„Autonomie ist eine verführerische Idee“
Weltweit streben Menschen nach Selbstverwirklichung. Doch haben die meisten auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft
Herr Mishra, ist es für Sie persönlich wichtiger, Ihre Individualität auszuleben oder einer Gruppe anzugehören?
Für mich war die Idee, ein Individuum zu sein, immer sehr verlockend, in gewisser Weise sogar unwiderstehlich. Ich denke, das gilt für viele Menschen, die in Indien oder Asien geboren sind. Vom Land in eine große Stadt zu gehen, die Familie hinter sich zu lassen, also mit der traditionellen Gemeinschaft zu brechen und für sich selbst zu kämpfen – das sorgte bei mir für ein berauschendes Freiheitsgefühl. Plötzlich schien alles möglich. Ich denke aber auch, dass diese Erfahrung nicht generalisierbar ist. Die individuelle Freiheit birgt für viele Menschen auch Gefahren.
Welche Gefahren sind das?
Wir vergessen oft, dass die Idee der persönlichen Autonomie erst seit rund 200 Jahren im Umlauf ist. Und wir erinnern uns auch selten daran, dass diese Idee seit ihrer Entstehung von vielen Warnungen begleitet wurde. Warnungen davor, dass der Individualismus uns nicht nur aus der vermeintlichen Unterdrückung durch das Kollektiv befreien, sondern uns gleichzeitig neue spirituelle und emotionale Lasten auferlegen würde. Dieser Prozess des Austarierens zwischen traditionellen Formen der Gemeinschaft und modernen Ideen des Individualismus ist in vielen Teilen der Welt längst nicht abgeschlossen, auch wenn das in Europa oder den USA anders scheinen mag.
In der westlichen Welt wird Menschen beigebracht, sich als Individuum zu verstehen und zu erleben, im Osten zählt die Gruppenzugehörigkeit – stimmt das?
Sie überspitzen die Frage zwar absichtlich, aber im Grunde genommen würde ich Ihnen recht geben. Die Idee, Hierarchien zu durchbrechen und Gesellschaften aufzulösen, in denen der Platz des Individuums durch Religions- oder Klassenzugehörigkeit definiert wurde, ist eine europäische Idee. Sie hatte ihren Ursprung im Christentum und koppelte sich dann später – im Zuge der industriellen Revolution – in einer säkularisierten Form an andere Konzepte wie den Wirtschaftsliberalismus. Erst so entwickelte sich die historische Kraft, die wir heute Individualismus nennen. Vielleicht ließen sich ähnliche Strömungen auch in der indischen oder chinesischen Geschichte finden, wohl aber kaum in dieser Ausprägung.
Sind viele westliche Gesellschaften in ihrer Begeisterung für das Individuelle im Menschen mittlerweile über das Ziel hinausgeschossen?
Ich glaube eher, dass sich der Individualismus im Westen so entwickelt hat, dass er mit seinem Ursprungsbegriff nur noch wenig zu tun hat. Die Idee hat sich von ihren Wurzeln entfremdet. Der Individualismus definierte sich ja anfangs vor allem als Gegenpol zu kollektiver Zugehörigkeit. Ironischerweise leben wir heute aber in Massengesellschaften, in denen wir als Individuen mit unglaublichem Druck zu kämpfen haben, sei es durch die Auseinandersetzung mit technologischen Innovationen oder auf dem Arbeitsmarkt.
Unsere Individualität ist gerade hier stark eingeschränkt. Uns wird gesagt, was wir zu tun haben, unsere Aufmerksamkeit wird konstant von Dingen beansprucht, die sich durch alle Sinneskanäle in unseren Kopf pressen. Die Idee des autonomen Individuums, die im 18. Jahrhundert von liberalen Bewegungen, den deutschen Romantikern oder auch von amerikanischen Transzendentalisten beschworen wurde, existiert in gewisser Weise gar nicht mehr. Sie ist längst ersetzt worden durch einen vom Kapitalismus korrumpierten Pseudoindividualismus. Wir erleben also eine Zeit, in der nicht nur ferne Gesellschaften mit der Idee der persönlichen Freiheit ringen, sondern auch die westlichen Welt.
Wird diese Unruhe dadurch verursacht, dass der Wunsch nach Individualität auch mit dem Druck einhergeht, ständige Selbstoptimierung zu betreiben?
Mit Sicherheit sogar. Wir leben heute in Gesellschaften, die sich voll und ganz der Ideologie des Neoliberalismus und dem Imperativ des Wirtschaftswachstums verschrieben haben. In solchen Gesellschaften sind wir als Individuen vor allem Unternehmer. Wir müssen uns vermarkten, unsere Präsenz in den sozialen Medien pflegen, unser Innerstes nach außen projizieren, egal ob wir Autoren, Geschäftsmänner oder Fabrikarbeiter sind. Heute gibt es Tausende Wege, sich selbst zu optimieren, früher nur ganz wenige.
Aber dieser Mangel an Optionen gab Menschen auch Stabilität und Sicherheit. Die neue, an die Marktwirtschaft gekoppelte Version des Individualismus ist im Grunde nichts anderes als eine erschreckende Parodie der Gedanken, die Denker wie Nietzsche oder Rousseau ausformuliert haben. Der Individualismus ist nun an einem Punkt angekommen, an dem er uns zu Einzelkämpfern degradiert und kollektive Verantwortung scheinbar überflüssig gemacht hat.
Bröckeln in vielen nichtwestlichen Ländern gemeinschaftliche Strukturen – etwa die Bedeutung der Familie, die Betreuung älterer Menschen oder die Unterstützung von Bedürftigen –, weil die Idee der Autonomie wichtiger wird?
Nun, ich glaube und hoffe, dass sich diese Formen des Zusammenlebens behaupten werden. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht, auch weil viele Leute noch gar nicht in der Lage sind, ihre kollektiven Zugehörigkeiten gegen einen radikalen Individualismus einzutauschen. In Asien, aber auch in den wirtschaftlich schwächeren Gegenden Europas und Amerikas spielt die traditionelle Familie zum Beispiel weiterhin eine wichtige Rolle – einfach weil sie ökonomische Stabilität verspricht. Oder nehmen Sie Indien: Dort sind wir längst nicht an einem Punkt angelangt, an dem sich Einzelpersonen, die vom Land in die Städte kommen, eigene Häuser und eigene Familien leisten können. Die Großfamilie bleibt also vorerst ein wichtiger Referenzpunkt.
Halten Sie die persönliche Autonomie für einen Gedanken, der weltweit als Leitideal taugt?
Grundsätzlich wäre es gefährlich, wenn wir nicht eine gewisse Skepsis gegenüber dem Konzept des Individualismus walten lassen würden. Ich glaube nicht, dass das Ideal falsch ist, bin aber auch der Meinung, dass man nicht zu leichtsinnig mit ihm umgehen sollte. So wie man ohnehin keinen Gedanken kritiklos akzeptieren sollte, der aus dem 18. Jahrhundert stammt und von einer winzigen Minderheit priviligierter Franzosen und Briten erdacht wurde. Trotzdem glaube ich, dass es in vielen Teilen der Welt durchaus ein grundlegendes Verlangen danach gibt, dem Ideal des Individualismus nachzueifern.
Anderseits begreifen viele Menschen aber mittlerweile auch, dass das Streben nach Selbstverwirklichung keine ausnahmslos positive Erfahrung ist. Wanderarbeiter in Asien etwa schlagen sich heutzutage zwar selbst durch, sie ziehen in die Städte und verdienen mehr Geld, als sie es auf dem Land tun würden. Insgesamt nimmt ihre Lebensqualität dadurch aber eher ab als zu. Ihnen fehlt die Zeit, neue Menschen kennenzulernen oder Beziehungen einzugehen. Die Städte sind anonym. Die Erfahrung der eigenen Befreiung ist nicht ohne ein gewisses Maß an Entfremdung von der Gesellschaft, von den anderen, zu haben.
Das Streben nach der Selbstverwirklichung ist Ihrer Meinung nach zwangsläufig mit Enttäuschungen verbunden?
In seiner neoliberalen Ausprägung, der Idee, dass man sich als Individuum nur selbst findet, wenn man sich genug kaufen kann und das neueste Smartphone besitzt, kann der Individualismus oft nur enttäuschen. Das nächste Upgrade kommt nämlich immer: Wir sind nie fertig. In dieser Hinsicht sind unsere eigenen Identitäten in der modernen Gesellschaft zunehmend davon abhängig, ob wir mit der Geschwindigkeit der Selbstoptimierung mithalten können.
Gleichzeitig werden wir in unserer technologisierten und vernetzten Welt abstruserweise immer abhängiger davon, was andere von uns denken, obwohl wir glauben, vornehmlich als Individuen zu existieren. Bin ich intelligent genug, reich genug, schön genug? Das sind die Fragen, die uns der ökonomisierte Individualismus täglich stellt. Das birgt ein unendliches Potenzial an Enttäuschungen und macht uns gleichzeitig süchtig nach mehr.
Die Individualität ist heutzutage also untrennbar mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung verknüpft?
Ich glaube, dass diese ungute Verquickung aufklärerischer Ideale mit neoliberalen Dogmen im Begriff ist, unsere Welt ins Chaos zu stürzen. In Europa beobachten wir gerade, wie gesellschaftliche Verträge, Ideen des Zusammenlebens und der Kooperation, die nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurden, in sich zusammenfallen. In Indien toben innerstaatliche Auseinandersetzungen zwischen Minderheiten, obwohl das postkoloniale Projekt uns eigentlich vereinen sollte. Das Interesse daran, gemeinschaftliches Zusammenleben auf politischem Wege zu organisieren, nimmt ab, wenn jeder für sich selbst und damit gegen alle anderen kämpft.
Ist es Ihrer Meinung nach möglich, das Konzept der persönlichen Freiheit wieder von ökonomischer Ideologie zu trennen?
Dafür müssten wir unsere politische und wirtschaftliche Ordnung grundlegend infrage stellen. Ich glaube nicht, dass das passieren wird, denn es fehlen die Kräfte, die so ein Umdenken anstoßen könnten. Sogar die sozialdemokratische Linke, von der man so eine Initiative hätte erwarten können, hat sich jüngst eher dadurch ausgezeichnet, neoliberalen Ideen den Weg zu ebnen, als ihnen Einhalt zu gebieten.
Welche Probleme sehen Sie vor diesem Hintergrund auf uns zukommen?
Ich mache keine Vorhersagen, ich analysiere nur das, was ich sehe. Derzeit sehe ich Kriege zwischen Staaten, Kriege zwischen einzelnen Menschen und Staaten, aber vor allem eine exponentielle Zunahme zwischenmenschlicher Gewalt. Ich bin immer wieder erschüttert angesichts der unglaublichen Fülle an Anfeindungen, die sich seit dem Aufkommen Sozialer Medien und interaktiver Nachrichtenseiten im Internet finden lassen. Die verbale Gewalt, etwa gegen Frauen, kennt dort beinahe keine Grenzen mehr. Es scheint ungeheure Konfliktpotenziale innerhalb unserer Gesellschaften und zwischen einzelnen Individuen zu geben, die nur darauf warten, auszubrechen. In gewisser Weise ist das vielleicht das Endstadium eines entarteten Individualismus.
Als Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika reiste, pries er das dortige Maß der Autonomie jedes Einzelnen. Er erkannte aber auch, dass es Institutionen gab, etwa die Kirche oder politische Organisationen, die dem Einzelnen einen gewissen Halt innerhalb der Gesellschaft garantierten. Wir scheinen nun an einem Punkt angelangt zu sein, an dem wir das vergessen haben. Wir haben auf dem Altar der Individualität nach und nach alle kollektiven Formen des Zusammenlebens geopfert, und jetzt stehen wir allein da.
Dieses Vakuum nutzen in Europa und den USA gerade Populisten wie Donald Trump und Marine Le Pen, um auf Stimmenfang zu gehen ...
All diese Phänomene, von Donald Trump über die Brexit-Kampagne bis hin zu Podemos in Spanien, repräsentieren im Prinzip eine Suche nach Sinn, ein Verlangen nach Zugehörigkeit. Da kommen Demagogen, die eine klare Abgrenzung von allen, die „anders“ sind, versprechen, vielen gerade recht. Das ist die Kehrseite einer Welt, die auf dem Fundament eines radikalen Individualismus gebaut ist. Wer auf dem Weg zur Selbstverwirklichung scheitert, der wird anfällig für die Verlockung vermeintlich starker politischer Führer.
Müssten wir uns also auf ein gemeinschaftlicheres Zusammenleben zurückbesinnen?
Es wäre schon ein Anfang, anzuerkennen, dass es immer ein Kollektiv braucht, um den Spielraum und die Limitierungen des Indviduums auszuloten. Ohne die Existenz einer Gemeinschaft ist der Individualismus ein völlig leeres Konzept. Wenn wir dieses Verständnis wieder pflegen, uns klarmachen, dass gemeinschaftliche Normen und gesellschaftliche Kooperation nötig sind, um einem gesunden Individualismus einen Rahmen zu geben, dann wäre schon viel gewonnen.