Wenn Menschen ihre Heimat verlassen

Der Journalist Karl-Heinz Meier-Braun stellt den aufgeregten Debatten über Einwanderung nüchtern die Fakten gegenüber und räumt so mit einigen Mythen auf

Werden in Zukunft mehr Flüchtlinge und Migranten zu uns kommen? Brauchen wir ein Einwanderungsgesetz? Wird Deutschland islamisiert? Fragen wie diese erhitzen seit Monaten die Gemüter. Schlagwörter wie „Armutszuwanderung“, „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „massenhafter Asylmissbrauch“ befeuern die Debatten, weil sie suggerieren, dass viele Schutzsuchende gar keinen Grund zur Flucht hätten.

Einige Politiker der etablierten Parteien nehmen eher unrühmliche Rollen ein, indem sie empört mit diesen Schlagwörtern um sich werfen und dabei die national-chauvinistischen Töne, derer sich PEGIDA und Co. bedienen, hoffähig machen. Es braucht dringend eine kalte Dusche, um die hitzig geführten Debatten um die deutsche Ausländerpolitik abzukühlen und die Fakten sprechen zu lassen. Man kann auf diese Dusche warten oder wie der Integrationsbeauftragte des Südwestrundfunks Karl-Heinz Meier-Braun selbst am Hahn drehen. In seinem Buch „Die 101 wichtigsten Fragen. Einwanderung und Asyl“ beantwortet er im nüchtern-sachlichen Ton die eingangs gestellten Fragen sowie 98 weitere.

Seit Jahren befasst sich Meier-Braun mit Fragen des kulturellen Miteinanders in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft, sei es als Leiter der SWR International-Redaktion, als Vorstandsmitglied im Rat für Migration oder als Mitglied im Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift. Er bringt also ausreichend Expertise im Themenfeld mit. Diese fließt erkennbar ein, wenn er in wenigen Sätzen erklärt, was sich hinter Begriffen wie „Königsteiner Schlüssel“, „Duldung“ oder „zirkuläre Migration“ verbirgt, oder ausführlicher erörtert, wie ein Asylverfahren abläuft, worum es beim „Kopftuchstreit“ geht oder warum die „Sarrazin-Debatte“ Deutschland geschadet hat. Einen Überblicksband zum Thema „Einwanderung und Asyl“ zu schreiben, der übermorgen nicht schon wieder hinfällig ist, ist angesichts der sich überschlagenden Kontroversen, Gesetzesinitiativen und politisch-administrativen Anpassungsmaßnahmen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Meier-Braun bewältigt diese souverän, wenngleich nicht ohne Schwachstellen.

So taucht die aktuelle Frage, warum die deutschen (und europäischen) Behörden so überfordert sind, in seinem Katalog gar nicht auf. An anderer Stelle verleitet ihn die Pflicht zur Objektivität zur Verkürzung der Fakten – etwa wenn er gleich zu Beginn die höhere Erwerbslosigkeit unter Migranten anspricht, ohne auf die stärkere Diskriminierung dieser Gruppe am Arbeitsmarkt einzugehen. Man wünschte sich bei aller Objektivität an mancher Stelle auch eine klarere Positionierung, etwa wenn es darum geht, die Ausrichtung von Frontex als „Grenzschutz“-Agentur oder das politische Geschacher um die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu hinterfragen. Angesichts der Notwendigkeit einer kalten Dusche Faktenwissen ist Meier-Brauns sachliche Darstellung aber nachvollziehbar.

Seine Objektivität kippt nie in Gleichgültigkeit, weil er subtil deutlich macht, dass hinter jedem sachlichen Argument ein menschliches Schicksal steht. Deshalb spricht er bei der Zahl der weltweiten Flüchtlinge von einer „traurige[n] Rekordmarke“ und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er den „Mythos der Armutsmigration“ kritisiert. Meier-Braun definiert Flüchtlinge als „Menschen, die vor Kriegen fliehen oder ihre Heimat aus anderen Notlagen heraus verlassen müssen und in einem anderen Land Schutz und Zuflucht suchen“. Ein fachlicher Lapsus, denn dabei kommt der sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ableitende Rechtsbegriff zu kurz, der die Grundlage für die Anerkennung von Flüchtlingen ist. In der Konvention heißt es: Die Furcht der Betroffenen vor Verfolgung aufgrund ihrer „Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ müsse begründet und im Einzelfall nachweisbar sein. Andere Notlagen, etwa eine wirtschaftliche oder die Bedrohung durch die Klimawandelfolgen, rechtfertigen eine Anerkennung als Flüchtling im Gegensatz zu Meier-Brauns Definition jedoch nicht.

Wer mehr über die menschliche Dimension der Migration nach Europa erfahren will, dem sei neben Heribert Prantls Weckruf „Im Namen der Menschlichkeit“ (Ullstein) Christoph Milers Doku-Fiktion „Nowhere Men“ (Luftschacht Verlag) empfohlen. Eineinhalb Jahre lang hat der Österreicher Gespräche mit irregulären Migranten geführt, in seinem Buch hat er deren Erzählungen literarisch verdichtet in sechs Schicksalen nachgezeichnet. Die Wege, die seine Protagonisten hinter sich gebracht haben, sind so verschieden wie die Motive ihrer Migration, die hier in den Kontext der politischen, ökonomischen und kulturellen „Ereignispartikel“ in aller Welt gestellt werden.

Je tiefer man in Milers Kulturstudie eintaucht, desto schneller dreht sich das Kaleidoskop namens Globalisierung. Auf diese geht Meier-Braun in seinem Band nur am Rand ein, wie auch auf die europäische Flüchtlingspolitik, der er nur zehn Seiten gewidmet hat. Vielleicht, weil die Wirklichkeit auf dem Mittelmeer jeden Tag neue, bedrückende Fakten schafft.

Die 101 wichtigsten Fragen. Einwanderung und Asyl. Von Karl-Heinz Meier-Braun. Verlag C.H.Beck, München, 2015.