Ich und die Technik

Ausspähen und töten

Wie die syrische Regierung mit digitalen Medien gegen die eigene Bevölkerung vorgeht

Die Assad-Regierung verfolgte bis März 2011 die strengste Medien- und Telekommunikationspolitik des Nahen Ostens. Als sie plötzlich soziale Medien wie Facebook und YouTube freigab, bekamen die Syrer neue Möglichkeiten, ihrer Wut über die despotische Herrschaft Assads Ausdruck zu verleihen. Sie hofften, dass ihre Proteste eine neue Öffentlichkeit und schließlich eine neue Politik hervorbringen könnten. Doch das Regime schaute nicht tatenlos zu, wie die neuen Kommunikationskanäle dabei halfen, seine Autorität zu untergraben. Im Gegenteil: Mit der Freigabe sozialer Medien begann sie, das Internet zu kontrollieren und setzt es nun als strategisches Repressionsmittel ein.

Meine Dissertation über Internetzensur und staatliche Repression geht der Frage nach, wie despotische Staaten das Internet gegen ihre Bevölkerungen wenden. Für den Bürgerkrieg in Syrien stand mir eine Datenbank als empirische Grundlage zur Verfügung, die mit Informationen von Menschenrechtsgruppen wie dem Syrian Network for Human Rights alle dokumentierten Tötungen des syrischen Regimes zwischen 2011 und 2014 erfasst. Sie bietet Aufschluss darüber, welche Rolle das Internet für das Regime im Kampf gegen Aufständische spielt und welche Formen der Gewalt es dabei anwendet. Jedes Opfer in der Datenbank, die bei weitem nicht alle Toten des Konflikts verzeichnet, wird mit einer kurzen Beschreibung der Todesumstände versehen.

Täglich zeigen YouTube-Videos aus Syrien tote Menschen in Leichenhallen oder Krankenhäusern, Aktivisten kommunizieren über Twitter und Facebook, um sich über Massaker zu informieren oder eigene Aktionen zu koordinieren. Doch auch das Regime hat seine virtuelle Präsenz ausgebaut. Die selbsternannte „Electronic Army“, freiwillige regimetreue Hacker und die Regierung gehen mit Spionageprogrammen gegen die Bevölkerung vor. Behörden senden unechte Sicherheitszertifikate an Facebook-Nutzer, um deren Passwörter abzufangen und Zielpersonen auszuspähen. Berichten zufolge werden Zivilisten gefoltert, um Facebook-Passwörter aus ihnen herauszupressen.

Außerdem schaltet das Regime immer wieder das Internet komplett ab und unterbricht die Kommunikation der Oppositionsgruppen untereinander. Militärische Gegenangriffe sind so schwieriger zu koordinieren, Assads Truppen sind strategisch im Vorteil. An Tagen, an denen das Internet abgeschaltet ist, übt die Regierung zudem mehr Gewalt aus: Im Durchschnitt werden dann neun Prozent mehr Menschen getötet als an Tagen, an denen das Internet funktioniert. Das heißt, dass zum Beispiel bei Netzwerkunterbrechungen in den Gegenden von Damaskus, Aleppo oder Homs das Regime fünf Menschen mehr pro Tag tötet als an Tagen, an denen über das Internet kommuniziert werden kann.

Auch die Art der Gewaltausübung ändert sich, wenn das Netz abgeschaltet wird. Deserteure, die exekutiert werden, sind Opfer sogenannter „zielgerichteter Gewalt“. Menschen, die zufällig bei Bränden oder großflächigen Bombardements umkommen, sterben durch „willkürliche Gewalt“. In Syrien sind das neun von zehn Kriegsopfern. Meine Forschungen zeigen, dass ein besserer Internetzugang der Bevölkerung zu mehr gezielten Tötungen führt: Wo die Regierung die digitale Kommunikation ihrer Zielpersonen ausspäht, wird jeder Fünfte zielgerichtet getötet. Wo wenig oder kein Internetzugang vorhanden ist, herrscht eher willkürliche Gewalt.

Die Enthüllungen Edward Snowdens zeigten, in welchem Maß staatliche Institutionen digitale Kommunikation unbemerkt einsehen und speichern können. Bisher war jedoch nicht klar, wie wertvoll Kontrolltechniken des Internets besonders für despotische Staaten sein können. Mit der wachsenden Rolle der digitalen Medien in Protest- und Oppositionsbewegungen auf der ganzen Welt müssen diese die digitalen Handlungsoptionen und das Kalkül von in Bedrängnis geratenen autokratischen Regierungen verstehen und vorausahnen.

Die digitale Privatsphäre als Grundrecht jedes Individuums ist im Umkehrschluss nie wichtiger gewesen als heute. Wer die Menschenrechte schützen will, muss das Recht auf vertrauliche Kommunikation in digitalen Öffentlichkeiten entschieden verteidigen.