Kauf ich. Ein Heft über Konsum

Ohrenwärmer für meinen Avatar

Die Handelswelten in Videospielen werden immer komplexer. Spieler kaufen und verkaufen im großen Stil – mit echtem Geld

In dem Kriegsgefangenenlager Stalag VII-A, nahe dem bayrischen Dorf Moosburg, wurde der inhaftierte britische Offizier R. Radford inmitten des Zweiten Weltkriegs Zeuge einer kuriosen wirtschaftlichen Entwicklung. Später berichtete Radford, dass die Insassen des Lagers regelmäßig Versorgungspakete vom Roten Kreuz erhielten, deren Inhalt etwas Tee, ein wenig Kaffee, Zucker, Dosenfleisch, ein oder zwei Schokoladenriegel und nicht zuletzt Zigaretten umfasste. Die britischen Häftlinge bevorzugten es, Tee statt Kaffee zu trinken; die französischen, niederländischen und belgischen Insassen favorisierten Kaffee.

Das brachte einige gewiefte Franzosen auf eine Geschäftsidee. Sie liehen sich Tee von ihren eigenen Landsmännern, brachten ihn zum britischen Offiziersquartier und tauschten ihn dort gegen Kaffee. Mit einem Teil dieses Kaffees bezahlten sie ihre Tee-Gläubiger, den Rest behielten sie: ein klassisches Beispiel für Arbitrage, das Ausnutzen von Preisunterschieden gleicher Waren auf unterschiedlichen Märk­ten. Die französischen Handelsmänner erwirtschafteten mit einfachsten Mitteln einen Kaffeeüberschuss, mit dem sie wiederum Schokolade und Zigaretten für den Eigenkonsum und mehr Tee für den Tauschhandel kaufen konnten. So hielten sie das Geschäft am Laufen.

Es dauerte nicht lange, bis sich das Gefängnis in eine echte Handelshochburg verwandelte. R. Radford beobachtete die Entstehung einer Marktwirtschaft im kleinen Maßstab. Zigaretten wurden zur allgemein anerkannten Währung, die sogar von Nichtrauchern nachgefragt wurde – entweder als Tauschmittel oder als Wertanlage. Zudem entstand ein Terminmarkt, auf dem Inhaftierte zu einem bestimmten Zeitpunkt in Vorleistung gingen, um innerhalb eines abgesteckten Zeitrahmens eine Gegenleistung zu erhalten. Neuigkeiten und Gerüchte von der Front beeinflussten Warenpreise und Verkaufszahlen – immerhin hingen die Geschäfte auch vom wirtschaftlichen Planungszeitraum (in diesem Fall der geschätzten Restdauer des Krieges) ab.

Fast siebzig Jahre später schlüpfte ich selbst in die Rolle von R. Radford. Ich bekam meine eigene Chance, eine entstehende Marktwirtschaft in einer ungewöhnlichen Umgebung – allerdings einer weitaus weniger ernsten – zu beobachten. Die Rede ist von der Handelswelt des Multiplayer-Videospiels Team Fortress 2 (TF2), dessen Produktionsfirma Valve mich 2011 als Berater einstellte. Den Tauschhandel eines echten Kriegsgefangenenlagers mit dem eines Ego-Shooters zu vergleichen, mag skurril anmuten, aber die Ähnlichkeit, mit der sich in beiden Fällen beinahe aus dem Nichts eine komplett funktionstüchtige Marktwirtschaft entwickelte, ist nicht von der Hand zu weisen. Bei der Genese des TF2-Marktes spielten ganz ähnliche Faktoren eine Rolle wie im Gefangenenlager. Da wäre etwa das Konzept des „Himmelsmannas“, das heißt die Verteilung kostenloser Zuwendungen an Marktakteure: im Beispiel des Gefangenenlagers sind das die Pakete des Roten Kreuzes, in TF2 sind es virtuelle Gegenstände wie Hüte, Waffen und Schlüssel, die die Spieler im Laufe des Spiels ohne eigenes Zutun erhalten oder „looten“, also ihren Gegenspielern im Kampf abnehmen.

Auch die Idee der unterschiedlichen Konsummus­ter spielte in TF2 eine Rolle. Ganz ähnlich wie im Beispiel mit Kaffee und Tee, gab es auch innerhalb des Spiels Vorlieben für spezielle virtuelle Gegenstände, die die Spieler motivierten, mit ihnen zu handeln. In TF2 begann der Handel damit, dass sich einzelne Spieler in Gestalt ihrer Avatare trafen und mithilfe der integrierten Chatfunktion vereinbarten, Gegenstände zu tauschen. Zum Beispiel einen Hut, den ein Spieler doppelt besaß, gegen ein Paar Ohrenwärmer oder eine bestimmte Waffe gegen einen anderen Ausrüstungsgegenstand.

Das Handelssystem wurde allerdings interessanter, als manch virtueller Gegenstand so begehrenswert wurde, dass die meisten Spieler nicht mehr in der Lage waren, genügend minderwertigere Gegenstände für einen Tauschhandel aufzubringen. An diesem Punkt entwickelten sich Kompensationszahlungen in Form echter Geldtransaktionen über Handelsportale wie Ebay. Statt virtuelle Waffen gegen virtuelle Hüte zu tauschen, boten Spieler das Inventar ihrer Spielcharaktere jetzt direkt für einen festgelegten Preis im Internet an. Begabte Spieler, die bereits eine ganze Reihe begehrter Gegenstände gesammelt hatten, fingen an, mit TF2 und den Konsumwünschen ihrer Mitspieler stolze Geldsummen zu erwirtschaften.

Doch solange die Monetarisierung des TF2-Reichtums nur auf Portalen wie Ebay, also außerhalb des Spiels, erreicht werden konnte, herrschte die Angst vor Betrug. Käufer mussten mit einer Zahlung über Ebay in Vorleistung gehen und darauf hoffen, dass der Verkäufer mit seinem Avatar ins Spiel zurückkehren und den Gegenstand übergeben würde. Dieses Problem, gepaart mit dem Interesse, Kapital aus der spontan entstandenen Marktwirtschaft zu schlagen, brachte die Entwickler von Valve dazu, selbst in die virtuelle Wirtschaft ihres Spiels einzusteigen und sie auszubauen.

Das Resultat war, dass Steam, eine digitale Handelsplattform, die Valve eigentlich entwickelt hatte, um Videospiele online zu verkaufen, nun zusätzlich zu einem Verkaufsort für virtuelle Items aus TF2 wurde. Spieler, die einen Gegenstand kaufen wollten, mussten das Spiel und den Unternehmensserver nicht mehr verlassen, um mit Mitspielern zu handeln. So konnte Valve sämtliche Transaktionen überwachen und selbst einen Teil der erwirtschafteten Umsätze der digitalen Handelswelt als Provision einstreichen. Zudem führte Valve unabhängige Produzenten an den Markt heran. Tausenden begabten Designern wurde erlaubt, neue digitale Güter, neue Kleidungsstücke und Waffen zu entwerfen, ins Spiel hochzuladen und über Steam zu verkaufen – etwa so wie private App-Designer ihre Applikationen über iTunes oder Google Play anbieten und damit mehr Geld verdienen, als mit ihren eigentlichen Jobs.

So entstand in einem Multiplayer-Spiel eine ungeplante, aber voll funktionstüchtige Marktwirtschaft. Verkörpern diese Videospiel-Tauschgemeinschaften jedoch „echte“ Wirtschaften? Kann man aus ihrer Analyse Erkenntnisse für reale Marktwirtschaften gewinnen? Meine Antwort ist: ja und nein.

Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich im Fall von TF2-Videospielen um reale Marktwirtschaften handelt. Doch sie sind keine voll entwickelten kapitalistischen Wirtschaftssysteme, solange man den Kapitalismus nicht mit Märkten ganz allgemein verwechselt. Welcher Bestandteil, der sie zu vollkommen „kapitalistischen“ Systemen machen würde, fehlt? Die Antwort ist: ein Arbeitsmarkt. Solange es in Video­spiel-Gemeinschaften noch keine Arbeitsverträge gibt, bleiben sie – genau wie Radfords Gefangenenlager-Ökonomie – faszinierende Quellen für Einsichten in die Wirkungsweise von Märkten und Konsumverhalten, liefern aber nur unsichere Parallelen zum realen Kapitalismus.

Aus dem Englischen von Kai Schnier