Kauf ich. Ein Heft über Konsum

„Alle glauben, sie sind das, was sie besitzen“

Der Ökonom Jeremy Rifkin hält das westliche Konsummodell für überholt

Herr Rifkin, kaufen Sie gerne ein?

Ob ich gerne einkaufe? Nein! Ich hasse es nicht, aber es ist nichts, was ich besonders gerne tue.

Ständiger Konsum ist essenziell für das kapitalistische Wirtschaftssystem. In Ihrem neuen Buch behaupten Sie, dass wir derzeit eine dritte industrielle Revolution erlebten und der Kapitalimus seinem Ende zugehe. Glauben Sie wirklich, dass Kapitalismus und westliches Konsummodell ausgedient haben?

Jedenfalls werden sie sich die Weltbühne mit einem neuen Wirtschaftssystem teilen müssen, der sogenannten Sharing-Ökonomie. Wir machen gerade eine fundamentale Veränderung durch: weg von Besitz und Devisenmarkt, hin zu allgemeinem Zugang zu Produkten und dem Teilen von Gemeingütern. Das wird den Konsum fundamental verändern. Wir glauben, dass Privatbesitz und individueller Konsum schon immer die Norm waren, ein unveräußerliches Recht. Diese Vorstellung entspricht aber gar nicht der Wahrheit. Natürlich gab es schon immer Privateigentum, aber die meisten Dinge wurden im Lauf der Geschichte öffentlich geteilt. Menschen haben sich schon immer zusammengetan und natürliche Güter als gemeinsame Ressourcen genutzt: Land, Wälder, Fischereigewässer. Wir haben also wirtschaftliche Strukturen, die Tausende von Jahren älter sind als der Kapitalismus. Ich nenne sie „kollaborative Gemeingüter“. Sie sind die vielleicht ältesten demokratischen Institutionen der Welt. Mit dem Internet und der Sharing-Ökonomie kehren wir nun wieder dahin zurück.

Inwiefern?

Nehmen wir zum Beispiel Spielzeug: Wenn Eltern ihrem zweijährigen Kind ein Spielzeug geben, ist das sozusagen die erste Einführung in den Privatbesitz. Sie sagen zu ihrem Kind: „Das ist dein Spielzeug. Nicht das von deinem Bruder, sondern deins. Du musst darauf aufpassen.“ Das Kind denkt sich: „Mein Spielzeug gehört zu mir.“ Es lernt, seine soziale Stellung und seine Identität über seinen Besitz zu definieren.

Und Sie glauben, dass sich Kinder in Zukunft anders verhalten werden?

Ja. Manche junge Eltern haben das bisherige wirtschaftliche Modell bereits komplett verändert – häufig, ohne es zu merken. Es gibt etwa Websites, auf denen unzählige Spielzeuge zum Tausch bereitstehen. Eltern kaufen ihrem Sprössling ein Spielzeug in der freien Marktwirtschaft, aber wenn es ausgedient hat, kommt es nicht auf den Dachboden, sondern es wird an eine Website geschickt, die auf dem Prinzip des Teilens beruht. Dort erhalten die Eltern ein Guthaben im Wert des Spielzeugs, mit dem sie dann aus vielen anderen Spielzeugen ein neues für ihr Kind auswählen können.

Wie genau soll dieses neue wirtschaftliche Miteinander funktionieren?

Man muss zum einen genau festlegen, wer an kollaborativen Gemeingütern teilhat und wer nicht. Dann muss man demokratisch entscheiden, wie mit den knappen Ressourcen umgegangen wird und wer für sie verantwortlich ist. Außerdem muss klar sein, wer was herstellt und wie das Hergestellte hinterher aufgeteilt wird. Und dann muss es natürlich bestimmte Regeln für Verstöße geben. Wer wiederholt gegen die gemeinsamen Regeln verstößt, muss aus dem System ausgeschlossen werden. Ich denke, dass es eigentlich in der menschlichen Natur liegt, innerhalb einer vertrauten Gemeinschaft zu teilen. Wir wollen etwas geben, um etwas zu erhalten – keine materiellen Güter, sondern Vertrautheit. Der individuelle Konsum, wie ihn der Kapitalismus voraussetzt, hat nichts mit der menschlichen Natur zu tun, er ist anerzogen. Er beruht auf ökonomischen Paradigmen, die mit dem modernen technologischen Fortschritt einhergingen.

Die Entdeckung des Individuums gehört aber auch zu unserer Geschichte. Seit der Aufklärung verstehen wir uns als freie und autonome Menschen. Und auch der Versuch, uns als einzigartige Persönlichkeiten zu definieren, macht unsere Identität aus. Warum sollten uns nicht auch die Dinge, die uns gehören, definieren? Wenn wir künftig alles teilen, können wir uns dann immer noch als Individuen fühlen?

Dazu gibt es viele gute philosophische Theorien. John Locke glaubte, dass wir alle als unbeschriebenes Blatt geboren werden: Das, was man in ein Kind hineinpackt, kommt aus ihm wieder heraus. Aber auf der anderen Seite wich er von seiner Idee ab, indem er sagte: „Alles ist Tabula rasa, aber es gibt eine Neigung zum Besitz.“ Er hat also ein bisschen geschummelt. Hegel wiederum sagte, dass Besitz eine Erweiterung unserer Person sei. Wir blähen uns mit unseren Besitztümern auf – zumindest in der modernen Welt. Und so kennen und erkennen uns Leute anhand unseres Besitzes wieder. Alle fangen irgendwie an zu glauben, dass sie das sind, was sie besitzen.

Was ist daran schlimm?

Die Werbeindustrie hat lauter Ideen entwickelt, wie man bei Menschen Gefühle von Minderwertigkeit, Angst und Identitätsverlust hervorrufen kann. Das führt dazu, dass Menschen ihre Identität, ihren Platz in der Gesellschaft und ihre soziale Anerkennung darauf gründen, was sie kaufen und besitzen. Der Sinn von Werbung war immer, den Motor des Kapitalimus am Laufen zu halten. Werbung erschafft Mangelgefühle, die entscheidend für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft sind. Wenn Sie bestimmte Dinge nicht haben, sollen Sie sich unvollständig fühlen, unzureichend, als wären Sie dann weniger Sie selbst, weniger selbstsicher. Aber das ist nicht die Natur des Menschen, sondern ein Produkt der Werbeindustrie. Wenn man anfängt, in Massen zu produzieren, muss man natürlich auch jemanden finden, der das alles kauft.

Die meisten Menschen würden sonst einfach nur herstellen, was sie zum Leben brauchen. Sie würden nur drei Tage pro Woche arbeiten wollen und dann nach Hause gehen. Ohne die Erfindung der Werbung und der Bedürfnisse, die sie kreiert, hätte man die Menschen niemals ausreichend leistungsfähig bekommen. Das war auch eines der Probleme, das die weißen Siedler mit den US-amerikanischen Urweinwohnern hatten. Es gab einen Völkermord, weil wir die Ureinwohner einfach nicht in die Fabriken bekamen, weil sie keine Löhne wollten, um sich hinterher damit etwas zu kaufen. Sie nahmen nur das, was sie zum Leben brauchten. Die Vorstellung, dass ich das bin, was ich besitze, und das auch noch der menschlichen Natur entsprechen soll, ist eine total falsche Annahme.

Auch wenn wir alle durch die Werbung manipuliert sind, macht es uns doch trotzdem glücklich, bestimmte Dinge zu besitzen.

Das stimmt. Nehmen wir zum Beispiel Autos: Das „Auto“ in „Automobil“ steht für „autonom“ und das „mobil“ für „Mobilität“. Das Auto symbolisiert Freiheit. Wir definieren Freiheit als Unabhängigkeit und Mobilität. Da spielt Adam Smiths Vorstellung mit hinein, dass jedes Kind ein autonomes kleines Wesen sei und sich auf seine Insel zurückziehen möchte. Je mehr Sachen die Menschen besaßen, desto mehr entwickelte sich diese Insel in eine Festung und bestimmte Menschen wurden davon ausgeschlossen. Das ist eine Art negative Freiheit.

Auch die, die es sich leisten könnten, wollen heute nicht mehr unbedingt selbst ein Auto haben. Zumindest in der westlichen Welt ist das so.

Jugendlichen ist es heute egal, ob sie ein Auto besitzen oder nicht. Was sie wollen, ist Zugang zu Mobilität. Sie haben ganz andere Sachen im Kopf. Sie wollen ihre Tweets und Posts checken und nicht Besitzer eines Autos sein. Das ist eine unglaubliche Veränderung im Verbraucherverhalten. Wenn wir jetzt anfangen, durch Carsharing Autos gemeinsam zu benutzen, bedeutet das, dass für jedes geteilte Auto 15 Autos aus der Produktion verschwinden. Und dann gibt es sogar noch das erste Auto, das von einem 3-D-Drucker hergestellt wurde – alle Teile, bis auf das Fahrgestell. Ein wunderschönes italienisches Modell, es wurde in dieser Woche in Chicago vorgestellt.

Wie werden 3-D-Drucker unser Konsumverhalten verändern?

Stellen Sie sich vor, dass jedes vier- oder fünfjährige Kind lernt, wie man mit einem 3-D-Drucker umgeht und dass man mit ihm Güter fast umsonst herstellen kann, mit extremer Effizienz, wenn man etwa wiederverwertbare Materialien verwendet. Esgibt keinen Grund, diese Güter mit einem Wert zu versehen und sie auf dem Markt zu verkaufen. Der Wert liegt im Teilen mit anderen.Wir werden es bald mit einer völlig neuen Generation zu tun haben, die nicht mehr als Konsument Produkte kauft, sondern sie als „Prosument“ selbst herstellt. Unterhaltungsprogramme, Videos, News, Wissen auf Wikipedia – wir können diese Dinge jetzt schon mit Grenzkosten von nahezu null produzieren.

Was sind Grenzkosten?

Grenzkosten sind die Kosten, die für jedes zusätzlich hergestellte Produkt anfallen, wenn man die Fixkosten – also Gehälter, Mieten, Produktionsmittel – außer Acht lässt. Heute können wir unsere eigenen erneuerbaren Energien bereits mit nahezu null Grenzkosten herstellen, die Vertreter der nächsten Generation werden auch Produkte und Dienstleistungen zu fast null Grenzkosten herstellen und sie danach miteinander teilen. Ich denke, dass unser gesellschaftlicher Status in Zukunft nicht mehr auf Besitztümern, sondern auf unserem sozialen Kapital beruhen wird und dass Jugendliche von heute Unternehmer sein wollen. Das Motto eines Prosumers lautet: „Ich möchte meine Software und meine 3-D-produzierten Güter frei zur Verfügung stellen und mit anderen teilen. Das erhöht meine soziale Reputation, ich fühle mich anerkannt. Ich habe etwas beigesteuert.“

Wenn alle permanent produzieren, werden wir dann nicht noch mehr Konsum haben als bereits jetzt schon? Mündet das nicht in einen gigantischen Überkonsum?

Nein! Wenn alles verfügbar ist und jeder sowohl Produzent als auch Konsument ist, wird sich aus angehäuftem Besitz kein Status mehr ableiten. Niemand wird mehr Dinge horten wollen. Der Grund, warum Menschen horten, ist der, dass die Werbeindustrie sagt: „Nimm es besser jetzt, bevor jemand anderes es nimmt.“ Das macht sie, indem sie für ein paar Minuten die Preise senkt. „Kauf es jetzt, denn morgen könnte es nicht mehr verfügbar sein.“ Diese Unsicherheiten sind in das System eingearbeitet. Aber wenn alltägliche Dinge im Überfluss vorhanden sind, dann verlieren sie ihren Status, ihre Wichtigkeit.

Das klingt interessant, aber auch ein bisschen utopisch. In Ihrem Buch beschreiben Sie ein hybrides Wirtschaftsmodell, in dem Kapitalismus und Sharing-Ökonomien nebeneinander existieren. Glauben Sie, dass Unternehmen, die nach kapitalistischer Marktlogik geführt sind, den Sharing-Portalen einfach das Feld überlassen werden?

Meine Theorie ist keine versponnene Utopie. Die Entwicklungen, die ich beschreibe, finden in allen Industriezweigen bereits statt. Der Kapitalismus wird weiterhin bestehen, aber in einer sehr eingeschränkten Weise. Alle Unternehmen, die in Zukunft florieren wollen, werden in der Lage sein müssen, kollaborative Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Die intelligenten Unternehmen werden Teil des doppelten Wirtschaftssystems sein: teils Kapitalismus, teils Sharing-Ökonomie.

Wenn wir an die großen neuen Player in der Weltwirtschaft denken, etwa an China: Wird ein solches Land die westlichen Entwicklungsstufen überspringen und von Privatbesitz direkt zum Teilen übergehen? Wollen die Chinesen nicht momentan auch alle einfach ein Auto haben?

Ich war immer sehr kritisch China gegenüber, wegen der hohen Umweltverschmutzung. Kürzlich aber wurde die Verfassung um einen Artikel ergänzt, der festlegt, dass die chinesische Entwicklung zukünftig im Einklang mit der Natur ablaufen muss. Die nationale Energiebehörde hat hierfür gerade einen Vertrag über umgerechnet 63,4 Milliarden Euro unterzeichnet. Das Geld soll dazu dienen, ein großes Energie-Internet auszubauen. Sie haben schon damit angefangen, sodass Millionen Chinesen bald ihre eigene Sonnen- und Windenergie herstellen können. Mit anderen Worten: Sie stellen ein großes neues Internet her, das Internet der Dinge.

Das Interview führten Jenny Friedrich-Freksa und Jan Weber