Für Mutige. 18 Dinge, die die Welt verändern

Zeitenwende

Der Mensch setzt die Gesetze der Biologie außer Kraft. Die Dimension dieser Entwicklung haben wir noch gar nicht verstanden

Fast vier Milliarden Jahre lang ist die Evolution des Lebens auf der Erde durch einen Prozess der natürlichen Auslese bestimmt worden. Trotz der vielen faszinierenden Wendungen in der Geschichte der Evolution änderten sich die Grundregeln nie. Genau dieselben Gesetze der natürlichen Auslese haben die Bakterien in den Urmeeren, die Dinosaurier in der Jurazeit, die Urmenschen in der Steinzeit und die Galapagos-Finken in den letzten Jahrhunderten hervorgebracht.

Nicht alle Menschen können sich mit dieser Idee abfinden. Religiöse Fundamentalisten bestehen darauf, dass ein „intelligentes Design“ und nicht die natürliche Auslese das Leben auf der Erde geformt hat. Sie betrachten die langen Hälse der Giraffen, die bunten Schwänze der Pfauen und die Riesenhirne der Menschen als Werk eines großen Gottes. Doch nach bester wissenschaftlicher Kenntnis haben die religiösen Fanatiker hier vollkommen unrecht. Die Geschichte des Lebens verdankt nichts einer göttlichen Intelligenz.

Paradoxerweise könnten die Fanatiker aber in der Zukunft recht haben. Sehr bald könnte die vier Milliarden Jahre dauernde Herrschaft der natürlichen Auslese enden und das Leben im Universum könnte mehr und mehr vom intelligenten Design göttlicher Wesen bestimmt werden. In der mittelfristigen Zukunft ist es nämlich wahrscheinlich, dass wir Menschen selbst uns in gottgleiche Wesen verwandeln, welche die Fähigkeit besitzen, Lebensformen nach ihren Plänen zu erschaffen. Dies wird nicht nur die größte Revolution in Tausenden Jahren Geschichte darstellen, sondern die größte in Milliarden Jahren der Biologie.

Die Abschaffung der natürlichen Auslese durch intelligentes Design zeichnet sich auf drei Gebieten ab. Der erste Forschungsbereich ist die Biotechnik. Bioingenieure könnten zukünftig die Formen, Fähigkeiten und Bedürfnisse von Organismen so verändern, dass sie einem vorgefassten Kulturbegriff entsprechen. Biotechnik an sich ist nicht neu. Seit mindestens 10.000 Jahren greift der Mensch durch Zucht, Kastration und anderes in die natürliche Auslese ein, um Lebewesen nach seinen Bedürfnissen zu optimieren und umzugestalten.

Doch die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte darüber, wie Organismen bis hinunter auf die Ebene der Zellen und des Genoms aufgebaut sind und funktionieren, haben bislang unvorstellbare Möglichkeiten eröffnet. Wissenschaftler können heute beispielsweise ein Gen einer Qualle, die in einem grün fluoreszierenden Licht leuchtet, einem Hasen oder Affen einpflanzen, der dann auch beginnt, in der Dunkelheit grün fluoreszierend zu leuchten. E.-coli-Bakterien sind genetisch so verändert worden, dass sie Insulin oder Biokraftstoff erzeugen. Ein Gen eines arktischen Fisches ist Kartoffeln eingesetzt worden, um die Pflanzen widerstandsfähiger gegen Frost zu machen.

In größerem Stil ist es Genetikern bereits auch gelungen, Wundermäuse zu erschaffen, die über verbesserte Erinnerungs- und Lernfähigkeiten verfügen. Oder einen Superwurm, der sechsmal länger als üblich lebt. Es gibt keinen Grund, warum es nicht auch möglich sein könnte, Supermenschen zu erschaffen. In hundert Jahren oder sogar nur einigen Jahrzehnten könnten die Gentechnik oder andere Formen der Biotechnologie es uns ermöglichen, nicht nur unsere Physiologie, unser Immunsystem und unsere Lebenserwartung weitreichend zu verändern, sondern auch unsere intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten.

Das zweite Forschungsgebiet, in dem intelligentes Design den Prozess der natürlichen Auslese ersetzen könnte, ist noch einschneidender. Anstatt sich auf organische Strukturen zu beschränken, könnten Entwickler in der Zukunft auch anorganisches Material verwenden und sogenannte Cyborgs erschaffen. Das sind Wesen mit sowohl organischen als auch anorganischen Teilen, beispielsweise ein Mensch mit einer bionischen Hand.

In gewisser Weise sind fast alle von uns heute bionische Wesen, denn unsere natürlichen Sinne und kognitiven Fähigkeiten werden durch Geräte wie Brillen, Schrittmacher und Computer ergänzt. Doch in mittelfristiger Zukunft wird diese Entwicklung noch viel weiter gehen. Es könnte sein, dass wir immer mehr anorganische Apparate an unsere Körper anschließen. Diese Geräte werden untrennbar von uns und sie werden unsere Fähigkeiten, Wünsche, Persönlichkeiten und Identitäten auf grundlegende Weise verändern.

Es gibt bereits funktionstüchtige Prototypen von bionischen Ohren, Beinen und Armen, die direkt an das Gehirn angeschlossen werden können. Zurzeit verwendet man sie, um Behinderungen zu bewältigen, aber sie könnten bald auch die menschliche Leistungsfähigkeit steigern. Im Moment sind bionische Arme noch kein adäquater Ersatz für die organischen Originale, aber das Entwicklungspotenzial hier ist grenzenlos. Bionische Arme könnten viel kräftiger gebaut werden, als organische Arme es natürlicherweise sind – selbst stärker als die eines Boxchampions. Die künstlichen Arme könnten alle paar Jahre ausgetauscht werden, wenn ein neues Modell entwickelt worden ist. Man könnte sie sogar vom Körper trennen und fernsteuern aber auch nach Belieben vervielfältigen. Man könnte sechs von ihnen besitzen wie eine hinduistische Göttin anstatt der armseligen zwei der Normalsterblichen.

Experten der Nanotechnologie arbeiten bereits an einem bionischen Immunsystem, das aus Millionen von Nanorobotern besteht, die unsere Körper bevölkern, verstopfte Blutgefäße öffnen, Viren und Bakterien bekämpfen, Krebszellen zerstören und sogar den Alterungsprozess umkehren. Noch revolutionärere Projekte befassen sich mit der Entwicklung einer direkten Zwei-Wege-Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, wodurch der Computer die elektrischen Signale des menschlichen Gehirns lesen und gleichzeitig selbst Signale, die das Hirn erkennt, aussenden kann. Solche Schnittstellen könnten das Gehirn direkt mit dem Internet verbinden oder eine unmittelbare Verknüpfung zu anderen Gehirnen aufbauen, wodurch sozusagen ein Inter-Hirn-Netz entsteht. Keiner mag abschätzen, welche Auswirkungen dies auf das Bewusstsein und die Identität von Menschen haben könnte.

Als letzte Möglichkeit könnte das intelligente Design auf organische Teile vollkommen verzichten und gänzlich nicht organische Wesen erschaffen. Das Human Brain Projekt, das 2005 an den Start ging, hat das Ziel, in einem Computer ein vollständiges menschliches Gehirn nachzubauen. Dabei simulieren die elektronischen Kreisläufe im Rechner die neuronalen Netze im Gehirn. Der Leiter des Projekts glaubt, dass es mit genügend Fördermitteln innerhalb von einem oder zwei Jahrzehnten möglich sein wird, ein künstliches Gehirn in einem Computer, der wie ein Mensch fühlen, sprechen und sich verhalten kann, nachzubauen. Wenn dieses Projekt erfolgreich ist, würde das Leben nach vier Milliarden Jahren, in denen es sich in der kleinen Welt der organischen Stoffe abspielte, plötzlich in die unermessliche Weite des anorganischen Reichs ausbrechen und könnte dort Formen annehmen, die unsere kühnsten Träume übersteigen.

Nicht alle Wissenschaftler glauben, dass das Gehirn analog zu den digitalen Computern von heute arbeitet. Daher steht nicht fest, ob es überhaupt möglich sein wird, jemals ein lebendes Gehirn in einem Computer zu erschaffen. Im April 2013 wählte die Europäische Union das Human Brain Projekt dennoch zu ihrem wissenschaftlichen Aushängeschild und bewilligte eine Förderung von mehr als einer Milliarde Euro. Es scheint also, dass die Europäer diese Möglichkeit sehr ernst nehmen.

Die Verwaltungsangestellten der Europäischen Union haben mit ihren Prognosen für die Zukunft nicht immer richtig gelegen. Und es wäre in der Tat erstaunlich, wenn alle oben genannten Voraussagen vollständig eintreten würden. Die Geschichte lehrt uns, dass Ereignisse, die nahe bevorzustehen scheinen, bisweilen aufgrund unvorhergesehener Hindernisse nie eintreten und dass andere ungeahnte Entwicklungen geschehen können. Nach der Atombombe von Hiroshima und dem ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik glaubten viele, dass im Jahr 2000 nuklearbetriebene Raumkolonien den Mond sowie Mars und Pluto bevölkern würden. Das ist nicht passiert. Im Gegensatz dazu hat niemand das Internet, das um einiges verblüffender als ein Flug zum Mars ist, vorausgesagt.

Man sollte solche Prognosen daher nicht als Prophezeiungen begreifen, sondern als Anregungen für unsere Vorstellungskraft. Wir können heute nicht sicher sein, wie schnell und auf welche Weise das Regime der natürlichen Auslese gestürzt werden wird, aber wir müssen anfangen, ernsthaft über eine Welt, die durch intelligentes Design bestimmt wird, nachzudenken. Der Mensch wird sich wahrscheinlich zum Gott hochrüsten, der seinen Körper und Geist und den Körper und Geist anderer Lebewesen formen und verändern kann. Die wichtigste Frage für die Menschheit lautet daher heute: Was wollen wir werden? Und weil wir wohl bald auch unsere Wünsche gestalten werden können, lautet die noch wichtigere Frage: Was wollen wir wollen? Diejenigen, die bei dieser Frage nicht erschrecken, haben wahrscheinlich noch nicht genug über sie nachgedacht.

Aus dem Englischen von Rosa Gosch