Mangel macht dumm

Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir erklären in ihrem Buch "Knappheit" warum überarbeitete Menschen sich ähnlich verhalten wie arme

Am 23. April 2005 um 22 Uhr nimmt der Feuerwehrmann Brian Hunton in Amarillo, Texas, einen Notruf entgegen. Innerhalb von nur 60 Sekunden sitzen er und seine Mannschaft im Einsatzwagen, doch Hunton wird den Brandherd nicht erreichen. Als das Fahrzeug eine scharfe Kurve nimmt, öffnet sich seine Tür, er stürzt auf die Straße und stirbt zwei Tage später. Hunton hatte vergessen, sich anzuschnallen.

Dieses tödliche Versäumnis in Texas ist ein drastisches Beispiel für den "Tunnelblick". So nennen die Professoren Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir das Phänomen, das eintritt, wenn Mangel unser Denken bestimmt. "Die Kraft, sich zu fokussieren, ist auch die Kraft, Dinge auszublenden" - etwa den Sicherheitsgurt -, schreiben sie in ihrem gemeinsamen Buch "Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben".

Mullainathan ist Professor für Ökonomie an der Harvard University, Shafir lehrt Psychologie und Public Affairs in Princeton. Ihr Werk widmet sich einer Wissenschaft in Kinderschuhen, der Verhaltensökonomie, die versucht, "die Psychologie in ökonomische Modelle einzubauen". Am Anfang des Buches steht ein Satz, dessen Sinn sich erst nach der Lektüre erschließt: "Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir zu viel zu tun hatten, um es nicht zu schreiben." Der rote Faden ist eine Frage: Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir mit Knappheit konfrontiert sind - wenn es an Geld fehlt, an Zeit, an Ressourcen? Die gute Nachricht zuerst: Knappheit macht uns effizienter. "Warum bauen die Bienen so präzise Waben und die Wespen so chaotische?", fragen die Autoren. "Die Wespen verbauen Material, das in Fülle herumliegt: Matsch. Die Bienen verbauen Material, das selten ist: Wachs."

Knappheit zwingt aber auch zu Kompromissen - etwa beim Kofferpacken. Ein kleiner Koffer erfordert vom Reisenden mehr Disziplin und Sorgfalt als ein großer. Brauche ich die Joggingsachen wirklich?, überlegt man. Geht es zur Not auch ohne den Schirm? Ein Bild, das die Autoren auf andere Aspekte des Lebens übertragen. So haben wir einen "Zeitkoffer", in den der Beruf, die Familie und die Freizeit passen müssen, einen "Geldkoffer" für Miete, Haushalt und Kleidung. Womöglich sogar einen selbst auferlegten "Kalorienkoffer". Wie großzügig wir "packen" können, beeinflusst unser Verhalten: "Knappheit ändert, wie wir mit jedem Dollar oder Euro umgehen, mit jeder Stunde und mit jeder Kalorie."

Der Gedanke ist einleuchtend, aber nicht neu. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass wir mit Reserven oft nicht haushalten können. "Wenn wir freie Minuten haben, verzetteln wir uns und verschwenden die Zeit mit vollen Händen", so die Autoren. "Und wenn wir reichlich Geld haben, kaufen wir Dinge, die wir wegwerfen und vergessen."

Zu einer wirklich anregenden Lektüre wird die "Psychologie der Knappheit", wenn die Autoren Phänomene zusammenführen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: Überbeschäftigung und Armut. "Verpasste Deadlines sind fast das Gleiche wie abgelaufene Zahlungstermine", heißt es. Dem einen mangelt es an Geld, dem anderen an Zeit. Doch beide stecken - wie der Feuerwehrmann - im gleichen mentalen Tunnel, der ihre "Bandbreite" beschränke. Unter diesem Begriff verstehen die Autoren "ein Maß für unsere Fähigkeit, zu rechnen, Aufmerksamkeit zu zeigen (...), Ablenkungen zu widerstehen". Je geringer die Bandbreite, um so mehr schrumpft die kognitive Kapazität. Mit anderen Worten: Knappheit macht uns dümmer. Wer einmal in den Teufelskreis des Mangels gerät, wird fortan immer ärmer.

Die Erklärung ist verblüffend einfach: Im mentalen Tunnel bestimmt kurzfristiges Denken unser Tun. Statt über Investitionen nachzudenken, fallen wir auf Kredithaie herein. Während wir Deadlines hinterherhecheln, verschieben wir das Sporttraining oder vergessen den Termin für die Darmspiegelung. Um zu belegen, wie ähnlich sich überarbeitete und arme Menschen verhalten, spannt das Buch einen großen Bogen: vom amerikanischen Mittelständler bis zur indischen Straßenhändlerin.

Forschungsergebnisse aus Universitätslaboren, Suppenküchen oder Einkaufszentren zeigen: Persönliche wie globale Krisen folgen einer vergleichbaren Logik. In unserem Verhalten während eines Booms sei die Rezession immer schon angelegt. Denn: "Wir vergessen zu sparen, wenn genügend Geld da ist. Wir trödeln herum, wenn die Deadline weit entfernt ist." Eine der von den Professoren geführten Untersuchungen ergab: Geldsorgen beeinträchtigten die kognitive Leistungsfähigkeit armer Menschen sogar mehr als Schlafentzug. Die Autoren plädieren deshalb für eine neue Sicht auf das alte Problem der Armut. Nicht schlechte Entscheidungen infolge von Charakterschwächen verstärken materielle Not, sondern die mentalen Auswirkungen der Armut führen zu schlechten Entscheidungen.

Was tun? Mullainathan und Shafir empfehlen mehr "Zwischen-Deadlines" für Überbeschäftigte oder - etwa für den armen Bauern - "Teilsummen in regelmäßigen Abständen" statt eines einmaligen Gewinns, den er sich selbst einteilen muss. Sie fordern "eine radikale Neuaufstellung der Armutspolitik": "Wenn wir Armut untersuchen, tendieren wir dazu, die materiellen Bedingungen in den Mittelpunkt zu stellen, wir sollten aber auch einen Blick auf die psychologischen Bedingungen werfen: die Bandbreite." Der Kampf ums Überleben entziehe diese "lebenswichtige Ressource". Eine kleinere Bandbreite bedeute auch weniger Selbstkontrolle. So falle es armen Menschen schwerer, Medikamente regelmäßig einzunehmen. Auch Überbeschäftige kennen dieses Problem.

Das Autorenteam bekennt, selbst Opfer der Knappheit zu sein. Obschon sie beim Schreiben ihres Buches immer wieder den Stecker des WLAN-Routers zogen, sei ihr Manuskript nicht rechtzeitig fertig geworden. Leider fehlte wohl auch die Zeit für ein gründliches Lektorat. Dieses Buch über Knappheit ist erstaunlich redundant. Selbst wenn es sich ausdrücklich auch an Laien richtet, darf man dem Leser zutrauen, Schlüsselbegriffe nach spätestens zwei Erklärungen verstanden zu haben. Eine Selbstbeobachtung wissen die findigen Professoren am Ende noch für ihre Thesen zu nutzen. "Wir beide spielen oft auf unseren Handys ein Spiel, das Scramble heißt", verraten sie. "Es ist für uns eine Arbeitspause (...) und ein Werkzeug, um Dinge aufzuschieben." Unter dem Druck des Abgabetermins gerieten aber auch die Autoren in einen mentalen Tunnel. Ihre Leistungen bei Scramble ließen nach - um 30 bis 40 Prozent.

Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben. Von Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir. Aus dem Amerikanischen von Carl Freytag, Campus, Frankfurt/New York, 2013.