Insekten essen
Die Weltbevölkerung wächst drastisch, Lebensmittel werden knapp - die Lösung ist proteinreich, leicht zu produzieren und überall zu finden
Insekten, Spinnen, Krustentiere und Würmer stehen am unteren Ende der Nahrungskette, wir Menschen ganz oben. Dennoch könnten Insekten helfen, ein Menschheitsproblem zu lösen: den Hunger. Unser gesamtes Ökosystem und das Leben selbst hängen von diesen kleinen vielfältigen Tieren ab, die nicht nur das Aas und den Dung anderer Tiere fressen, sondern auch Pflanzen befruchten, die wiederum als Futtermittel und Sauertstofflieferanten dienen. Deshalb bezeichnet der Harvard-Professor und Insektenkundler E.O. Wilson Insekten auch als „kleine Dinge, die die Welt am Laufen halten“.
Heute leben rund sieben Milliarden Menschen auf der Erde, bis 2050 werden es neun Milliarden sein. Ob es in Zukunft möglich sein wird, sie mit den heute gängigen Lebensmitteln wie Pflanzen, Samen und Fleisch (hauptsächlich von Vögeln, Säugetieren, Fischen und einigen Schalen- und Krustentieren) satt zu bekommen, ist fraglich. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) sieht essbare Insekten als große Chance im Kampf gegen die globale Lebensmittelknappheit. Trotz der enormen Anzahl an Insektenarten und der großen Population bestimmter Spezies stehen Insekten jedoch weit unten auf der Lebensmittel-Prioritätenliste. Sind sie tatsächlich eine geeignete Nahrung für Menschen? Und: Wollen wir sie überhaupt essen?
Weltweit steigt vor allem der Verbrauch von Fleisch. Während es 1970 noch 26 Kilo pro Jahr und pro Person waren, sind es im Jahr 2000 schon 37 Kilo gewesen und für 2050 wird ein Verbrauch von 52 Kilo pro Person erwartet. Die immer stärkere Nachfrage nach Fleisch führt jedoch längerfristig zur Ausrottung von Wildtieren, Überfischung und der Rodung von Wäldern zugunsten von Weideland. Außerdem dienen immer mehr Pflanzen – und sogar Tierprodukte wie Fischmehl – als Futtermittel in der Viehhaltung und nicht als Nahrung für den Menschen. Um diesen Negativentwicklungen entgegenzuwirken, sollten Insekten mehr in den Fokus der Lebensmittelindustrie rücken.
Insekten sind reich an Proteinen, Aminosäuren, einfach ungesättigten und mehrfach ungesättigten Fettsäuren, Mikronährstoffen wie Eisen und Zink sowie Vitaminen (vor allem Vitamin B). Die gleichen Nährstoffe also, die auch Fleisch, Fisch, Eier und Molkereiprodukte beinhalten. Auch eine vegetarische Ernährung mit Getreide und Hülsenfrüchten gilt als nahrhaft, obwohl es dem Getreide an den Aminosäuren Lysin, Tryptophan und Theorin fehlt. Um der Mangelernährung von Kindern vorzubeugen, könnte man einer vegetarischen Ernährung auf Getreidebasis kleine Mengen Insekten hinzufügen. Diese würden ausreichend Nährstoffe bereitstellen, und das mit einem wesentlich kleineren ökologischen Fußabdruck. Das heißt, um Insekten zu füttern, braucht man weniger pflanzliche Proteine als bei anderen Tieren, die wir essen. Man benötigt zum Beispiel zwei Kilo Futter, um ein Kilo Insekten zu produzieren – ein Kilo Fleisch schlüge mit acht Kilo Futter zu Buche. Insekten brauchen außerdem weniger Weideflächen als Nutztiere.
Für Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika und indigene Völker in Australien und Nordamerika sind Insekten bereits ein selbstverständlicher Teil ihrer Ernährung. Sie sind durchaus kein Hungersnotessen, wie viele glauben. Der Konsum von Insekten steigt sogar in einigen Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika, wenn sich der Lebensstandard der Menschen verbessert. Geschätzte zwei Milliarden Menschen weltweit essen Insekten. Die negative Einstellung der übrigen zum Insektenkonsum wird vor allem von der westlichen Einstellung beeinflusst, dass Insekten unsauber seien. In den meisten Lebensmittelvorschriften gelten sie als Verunreinigung der Nahrung. Tatsächlich nimmt man sie aber, ohne es zu merken, auch im Westen regelmäßig zu sich, versteckt in Obst, Gemüse oder behandelten Lebensmitteln. 250 Gramm Insekten konsumieren die meisten Menschen im Jahr auf diese Weise.
Traditionell wurden Insekten früher in der Natur gesammelt – und zwar nur so viele, wie man brauchte. Die verschiedenen Arten wurden in unterschiedlichen Lebensräumen gefunden und waren je nach Saison verfügbar. Manche Arten vermehrten sich plötzlich massenhaft, sodass sie manchmal in großen Mengen als Nahrung zur Verfügung standen, dann wiederum gar nicht. Heute stellen elektronische Insektenfallen und Kühlgeräte sicher, dass die Nachfrage jederzeit befriedigt werden kann. Das birgt jedoch die Gefahr, dass zu viele Insekten gesammelt und so ganze Arten ausgerottet werden. Dies würde schwer vorauszusagende drastische Konsequenzen für die Nahrungskette und das gesamte ökologische System haben. Taranteln zum Beispiel, bei denen es sich nicht um Insekten, sondern um Spinnen handelt, werden in Kambodscha traditionell als Nahrung gefangen und in letzter Zeit immer häufiger nachgefragt. Dies hat zu einer gefährlichen Reduzierung dieses für das Ökosystem Wald wichtigen Raubtiers geführt. Auch die Mopane-Würmer (Motten im Raupenstadium) in Afrika und bestimmte Ameisenarten in Mexiko stehen kurz vor der Ausrottung, weil sie bei den Menschen als Nahrung so beliebt sind.
Einigen traditionellen Gesellschaften gelang es, Insekten halb zu domestizieren, indem sie die Umwelt manipulierten, um ihre Anzahl zu erhöhen. Australische Aborigines brannten zum Beispiel die Blätter und Äste von Bäumen nieder, um mit den schnell nachwachsenden nahrhaften Blättern Insekten anzulocken. Auch südamerikanische Indianer beschädigten absichtlich den Stamm von lebenden Palmen, damit Palmen-Rüsselkäfer sich besser vermehren konnten. Tiere wie die Hausgrille oder der Mehlwurm werden heute bereits gezüchtet. Dabei können allerdings Probleme auftreten – vor allem, wenn eine sehr kleine Kolonie einer bestimmten Insektenart die Zuchtgrundlage bildet. Im Fall der Hausgrille kann es beispielsweise zu Inzucht kommen, die genetische Veränderungen in der Population hervorruft und sie anfällig für Krankheiten macht. Sie kann sich dann umweltbedingten Abweichungen, wie etwa veränderten klimatischen Bedingungen, nicht mehr anpassen. Insektenzucht kann die Nachfrage befriedigen, aber nur dann, wenn importierte Insektenarten nicht ausbrechen und die einheimische Umwelt bevölkern. Verdorbenes Essen oder andere organische Stoffe könnten statt industriell hergestellten Tierfutters als Insektenfutter verwendet werden. Die gezüchteten Insekten können dann für den Verzehr, Verkauf oder als Futter für andere Nahrungstiere (wie Frosch, Fisch oder Geflügel) genutzt werden.
Das eigentliche Problem ist aber nach wie vor, ob und wie Insekten überhaupt als Nahrungsquelle übernommen werden. Das wird in den Industrienationen wahrscheinlich schwierig. Doch Insekten als Nahrung zu benutzen, verlangt nicht automatisch, dass man sie direkt isst. Sie können auch als Nahrungsmittelergänzung (etwa als Proteinpulver) oder als Futter in der Viehzucht zum Einsatz kommen. Isst man sie direkt, sind die Möglichkeiten hinsichtlich Arten und Stadien, in denen sie verzehrt werden, so vielfältig, dass es keinen Grund dafür gibt, dass Insekten und andere Wirbellose nicht in der Zukunft als weitere Nahrungsquelle akzeptiert werden können. Bestimmte Arten könnten auch als „Gourmet-Essen“ beworben werden, wie Wespenlarven in Japan. Viele Lebensmittel, die heute als normal gelten, wurden in der Vergangenheit auch als bizarr angesehen. So galt die Kartoffel zuerst als Zierpflanze, als sie im 16. Jahrhundert aus Südamerika nach Europa kam. Erst mit der Zeit wurde sie kultiviert und gilt heute als Grundnahrungsmittel.
Der Verzehr von Insekten in vielen verschiedenen Kulturen könnte die Abhängigkeit von einer sehr kleinen Gruppe von Tierarten, die wir essen, verringern. Der Widerstand gegen essbare Insekten ist aber besonders in westlichen Gesellschaften sehr groß, obwohl es wünschenswert wäre, dass auch sie bald Insekten auf den Tellern akzeptieren würden. Dass Menschen in anderen Kulturen Insekten ganz selbstverständlich als Nahrung zu sich nehmen, hilft dabei. Besonders interessant ist zu sehen, wie verschiedene Kulturen essbare Insekten nutzen. Eine Art von Weberameisen aus Südchina, deren Gebiet sich bis Nordaustralien erstreckt, wird im Mekong-Delta von den Menschen als Nahrungsquelle genutzt, während man sie in Indonesien sammelt und als Futter für im Haus gehaltene Vögel einsetzt. In Nordaustralien hingegen wird die Weberameise für medizinische Zwecke verwendet, weil man ihrer Ameisensäure besondere Heilkräfte gegen Infektionen zuschreibt. Um diese zu nutzen, lässt man sich entweder wiederholt beißen, was relativ schmerzhaft ist oder man gibt die Tiere in kochendes Wasser und atmet den Dampf ein.
Es ist unwahrscheinlich, dass Insekten in naher Zukunft eine prominente Komponente in der Nahrung westlicher Länder werden. Doch wenn Menschen sich der Probleme in der Ernährungssicherheit weltweit bewusster werden, werden längerfristig sicherlich mehr Insekten auf westlichen Speiseplänen landen. Dieses Ziel verfolgt die FAO schon seit 2003 mit viel Aufwand und veröffentlicht regelmäßig Berichte, um das Ansehen von Insekten in der westlichen Welt zu vergrößern. Knapp 2.000 verschiedene Insektenarten wurden von der FAO schon als essbar klassifiziert, darunter die am häufigsten konsumierten wie diverse Käferarten (31 Prozent), Raupen (18 Prozent), Ameisen (14 Prozent) sowie Grashüpfer und Grillen (13 Prozent). Natürlich werden Insekten allein das Welthungerproblem nicht lösen. Dennoch werden die kleinen Dinge, die die Welt am Laufen halten, zumindest dabei helfen es anzugehen.
Aus dem Englischen von Isabel Herwig