„Europa profitiert“

Die EU und die USA haben mit Gesprächen für ein Freihandelsabkommen begonnen. Bedroht die Angleichung wirtschaftlicher Normen und Standards die kulturelle Vielfalt Europas?

Ein transatlantisches Freihandelsabkommen wird Europa nur dann kulturell verändern, wenn es zu schwach ist, das zu sein, was es ist und sein will. Ein Abkommen zwischen Europa und den USA wird frühestens 2015 konkrete Neuerungen bringen und voraussichtlich weniger verändern, als manche heute befürchten. Bereits jetzt sind Europa und die USA die beiden weltweit wichtigsten Handelspartner. Für die meisten Waren- und Dienstleistungen bestehen schon seit Längerem keine Handelsbeschränkungen mehr, sodass nur etwa sieben Prozent des bilateralen Handelsvolumens überhaupt von dem Abkommen betroffen wären.

Dazu wurden auf Drängen Frankreichs Kulturthemen wie "audiovisuelle Dienste" (Film, Fernsehen, Musik) vorläufig ausgenommen. Auch für "kulturell relevante Bereiche", wie den Buchmarkt oder nationale Kulturförderung, soll es Sonderregelungen geben. Hinter diesen Ausnahmen steht die Sorge, dass die europäische Kultur von der US-amerikanischen dominiert wird. Doch angesichts der Allgegenwart von amerikanischer Popkultur, Musik, Film, Fernsehen, Technologie, Sport und Sprachfloskeln muss man sich fragen: Kann Europa kulturell überhaupt noch mehr "amerikanisiert" werden, als es heute bereits ist? Wohl schwerlich. Dagegen ist Europa in den USA seit Barack Obama praktisch von der Bildfläche verschwunden zugunsten der neuen Allpräsenz Chinas und Asiens. Es könnte also eher Europa von der verstärkten Kulturverbindung profitieren als die USA.

Auf dem Weg zu einer vereinten Menschheit haben wir ohnehin keine andere Möglichkeit, als dass sich die Kulturen verbinden und dabei bis zu einem gewissen Grad gegenseitig assimilieren. Außerdem wachsen die neuen Generationen durch die modernen Kommunikationstechnologien und sozialen Medien, die Menschen in Realzeit rund um die Erde verbinden, im Grunde doch bereits zwischen den Nationalkulturen auf. Diese verlieren dadurch an Bindekraft und Bedeutung. Das muss kein Nachteil sein, denn seit dem Zeitalter der Nationalstaaten ist Kultur eher ein Grund für Kriege durch ausschließende Identifikation denn für Verständigung und gegenseitige Bereicherung gewesen. Die USA haben bewusst keine Nationalkultur, sondern eine auf Ideale der Individualität und Freiheit gegründete Zivilreligion, weil sie in ihrem Selbstverständnis als erstes Experiment einer Menschheitsgesellschaft den vermeintlich engen Kulturbegriff gerade überwinden wollen und müssen. Amerika ist einst aus der europäischen Kultur hervorgegangen. Ist Europa so wenig selbstbewusst, nun eine rückwirkende Veränderung zu befürchten? Darin liegt ein Widerspruch, zumal es ja das historische Gefestigtsein, die Stärke und Besonderheit seiner eigenen Kultur im Gegensatz zu der amerikanischen sonst gerne betont.

Richtig ist auf der anderen Seite aber auch - und hier gebe ich den Kritikern recht -, dass Europa Vorsicht walten und genau verhandeln muss. In den USA gibt es bewusst kein Kulturministerium, weil Herkunftskulturen und -sprachen nicht gefördert, sondern im Gegenteil gerade überwunden werden sollen. Der Durchschnittsamerikaner versteht bis heute auf der Grundlage seines historischen Individualitätsverständnisses und seiner radikal-kapitalistischen Tradition nicht wirklich, was staatliche Kulturförderung sein soll. Kunstförderung stellt je nach Bundesstaat und Stadt eine Ausnahme dar, unterliegt aber dabei üblicherweise den Konkurrenzprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft, die auch den Universitätsbereich kennzeichnen. Der Rest wird der Philanthropie-Kultur überlassen, die keine verlässliche Größe ist. Außerdem ist in den USA das Kapital in höchstem Maße konzentriert und arbeitet, wie eine Redewendung sagt, "nackt" und brutal. Das birgt die Gefahr, dass die kleinen, weniger marktmächtigen oder populären Kulturschaffenden verdrängt werden. Vor allem Internetgiganten wie Google, Yahoo und Microsoft dürfen nicht noch dominanter in der Förderung oder Verdrängung von Kultur werden.

Das Freihandelsabkommen mit dem mittlerweile mehr als 65-jährigen Partner und Beschützer Amerika wird Europa nur dann kulturell verändern, wenn dieses keine Kraft mehr hat, sich innerhalb der globalen Demokratien zu behaupten; wenn es weiterhin uneinig bleibt und keine gemeinsame Zivilreligion jenseits der Nationalkulturen entwickelt, und zwar nicht mehr nur implizit, sondern nun auch explizit; oder wenn seine Ideen sich zunehmend als wirkungslos erweisen. Das Freihandelsabkommen ist für Europa ein willkommener Anlass, in sich zu gehen, seine Schwächen und Stärken auszuloten, sich auf den Weg zu gelebten und von der Bevölkerung empfundenen gesamteuropäischen Idealen zu machen und seine grenzübergreifende Einheit nun auch geistig zu stärken. Es ist eine Chance zu einem neuen Selbstbewusstsein, das sich sowohl die kulturelle Differenz wie die Nähe zu Amerika bewusst macht. Für all das sind die im Juli 2013 begonnenen Gespräche zu einem Freihandelsabkommen eher ein positiver Anstoß als eine Gefährdung oder gar ein Rückschritt für Europas - bei genauem Hinsehen überhaupt noch nicht existente - gemeinsame Kultur. Es hängt nur davon ab, was Europa daraus macht.