Die Macht der Performance

Wie rund um das Mittelmeer der öffentliche Raum zur Bühne wird

Ein Mann übergießt sich in einer kleinen tunesischen Stadt auf der Straße vor einem Verwaltungsgebäude mit Benzin und steckt sich vor den Augen der Passanten in Brand. Die dramatische Szene gilt als Auslöser der arabischen Revolutionen des Jahres 2011. Ob der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi bewusst ein Zeichen setzen wollte oder aus spontaner Verzweif lung handelte, weil er sich durch die tunesische Polizei erniedrigt fühlte, kann bis heute niemand mit Sicherheit sagen.

Trotzdem ist das Ereignis emblematisch für eine Entwicklung der folgenden Jahre: Überall auf der Welt, vor allem rund um das Mittelmeer, machen Menschen verstärkt mit Aktionen auf öffentlichen Plätzen auf ihre Anliegen aufmerksam. Ob in Istanbul, Tunis, Kairo oder Athen, Bürger protestieren unter Einsatz von Leib und nicht selten auch Leben. Häufig bedienen sie sich dabei theatralischer Elemente und Formen. Die grinsenden Guy-Fawkes-Masken sind längst zum Symbol der Occupy-Bewegung geworden. Und die "Stehender Mann"-Performance des türkischen Choreografen Erdem Gündüz, der im Juni 2013 acht Stunden lang demonstrativ still und stumm auf dem Istanbuler Taksim-Platz ausharrte, machte den Künstler zur vielfach nachgeahmten Internet-Berühmtheit.

Ebenfalls im Juni trafen sich Wissenschaftler, Aktivisten und Künstler aus über zwanzig Ländern in der marokkanischen Küstenstadt Tanger zu einer Konferenz des örtlichen International Center for Performance Studies, um dem Phänomen öffentlicher politischer Performance auf den Grund zu gehen. Die Griechin Hypatia Vourloumis ist aus Berlin angereist, wo sie Stipendiatin am internationalen Forschungskolleg "Verflechtungen von Theaterkulturen" der Freien Universität ist. Vourloumis berichtet von der Besetzung des historischen Embros-Theaters in Athen seit 2011 und wünscht sich eine "Koalition von Künstlern, Akademikern und Aktivisten, die sich das Mittelmeer teilen". Vourloumis' Vortrag zeigt, dass - obgleich die Epizentren der Revolution Taksim, Tahrir oder Syntagma heißen - Widerstand auch aus dem Inneren der Sch uspielhäuser hervorgeht. Besonders in Griechenland setzen sich Theatermacher kritisch mit der Krise auseinander (siehe KULTURAUSTAUSCH III/2012 und III/2013). Der geplante Abriss des fast neunzigjährigen Istanbuler Emek-Kinos führte schon kurz vor Beginn der Massenproteste im Gezi-Park zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei.

Dass der Arabische Frühling einen Wendepunkt für die Theaterkultur in der arabischen Welt markiert, davon ist der ägyptische Dramatiker Ibrahim El-Husseini überzeugt. Das aus Europa importierte klassische Theatermodell beschränke das Geschehen klar auf das Innere der vier Wände eines zu diesem Zweck errichteten Hauses, sagt El-Husseini. Die Revolutionen in der arabischen Welt dagegen bezeichnet er als "ein Theater der Straße", bei dem die Bürger in kreativen Darbietungen sich selbst feiern und Bürokraten, Machthaber und Diktatoren anprangern. So sei eine neue Öffentlichkeit entstanden, glaubt El-Husseini, die im Umkehrschluss ein offeneres, interaktiveres und spontaneres Theater brauche.

Doch wann wird eine Demonstration eigentlich zur Perfomance? "Performance ist das, was von denen, die sie zeigen, als solche angekündigt wird", definiert der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann den Begriff. Bei politischen Protesten entstehen performative Elemente allerdings oft aus der Not heraus oder aus praktischen Gründen. Das durch die Occupy-Bewegung bekannt gewordene "Human Microphone", bei dem die Menge als Verstärker des Redners agiert, indem sie seine Worte wiederholt, damit auch diejenigen außer Hörweite ihn verstehen können, erinnert manchmal an einen Poetry-Slam. Fast tänzerisch muteten die wedelnden Armbewegungen an, mit denen die Demonstranten, die sich jüngst zu demokratischen Foren in einem alten Amphitheater in Istanbuls Abbasaga-Park versammelten, wegen des polizeilichen Lärmverbots Zustimmung signalisierten. Menschen, die vorher kaum wahrgenommen wurden, werden auf paradoxe Weise sichtbar, indem sie Gewalt gegen den eigenen Körper richten, anstatt gegen andere. Dies gilt für den tunesischen Gemüsehändler Bouazizi genauso wie für einen namenlosen Gefangenen im Hungerstreik oder einen Schuldner, der Selbstmord begeht. Doch ist es legitim, ihre Taten als Performance zu bezeichnen?

Für den marokkanischen Autor und Kritiker Azzedine El Ouafi offenbar schon. Er geht so weit, eine Verbindung zwischen öffentlichen Selbstverbrennungen und den weltweiten Oben-ohne-Aktionen der feministischen Femen-Gruppe herzustellen. Beide betonten "die Bedeutung des Körpers für die Wiederherstellung einer Öffentlichkeit". Der Vergleich macht deutlich, dass die Gruppen, die mit vollem Körpereinsatz im öffentlichen Raum um Aufmerksamkeit ringen, unterschiedlicher nicht sein könnten. Zu Beginn des Arabischen Frühlings traten Meinungsverschiedenheiten im gemeinsamen Kampf gegen die autoritären Regime in den Hintergrund, wie bei den Menschenketten koptischer Christen um die kollektiven Freitagsgebete protestierender Muslime auf dem Tahrir-Platz. Nun hat ein Tauziehen darum begonnen, wer auf der Straße den Ton angibt. In Tunesien stehen sich Säkuläre und Salafisten gegenüber, in Ägypten kommt es zur Konfrontation zwischen Gegnern und Unterstützern des gestürzten Präsidenten Mursi.

Von einem Kampf zwischen dem "Theater der Straße und dem Theater der Salafisten" spricht der Dramatiker El-Husseini. Strenggläubige Muslime fühlen sich offenbar durch schauspielerische Darbietungen provoziert, wie wiederholte Angriffe von Salafisten auf Schauspieler in Tunesien zeigen. Auf der anderen Seite schließen sich Religion und Schauspiel nicht automatisch gegenseitig aus. Das zeigen öffentliche Aufführungen wie das schiitische Ta'zieh, bei dem das Martyrium des Enkels des Propheten Mohammed nachgestellt wird. Auch bei politischen Kundgebungen setzen Protestierende ihren Glauben in Szene. Teilnehmer der marokkanischen "Bewegung des 20. Februar" riefen religiöse Sprechchöre. Die Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz hielten "Pray-Ins" ab. Die arabischen Revolutionen hätten Raum für einen neuen Postsäkularismus geschaffen, in dem die Jugend selbstbewusst und öffentlich ihre Religion lebt und gleichzeitig für Bürgerrechte kämpft, erklärt Abdelaziz El Amrani, Doktorand an der Sidi Mohamed Ben Abdellah Universität in Fez. Er selbst schloss sich als arbeitsloser Lehrer im Februar 2011 den Protesten für politische Reformen an und wurde von der Polizei verprügelt. "In Marokko muss man protestieren, hier bekommst du nichts geschenkt", sagt El Amrani.

Viele Beobachter haben die Bedeutung des Internets für die arabischen Revolutionen hervorgehoben. Doch die körperliche Anwesenheit von Menschen auf öffentlichen Plätzen scheint ein Ansteckungspotenzial zu haben, das sich virtuell so nicht herstellen lässt. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ahlam Muhtaseb von der California State University betont die Möglichkeiten des Internets als Werkzeug zur Mobilisierung von Protest und zur Schaffung eines globalen öffentlichen Raums. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass nur eine Minderheit der Weltbevölkerung Zugang zum Netz hat. Nicht das Internet habe die Revolutionen verursacht, sondern "Menschen, die ihr Leben opferten". Dem stimmt auch der Organisator der Konferenz, Khalid Amine, in seinem Abschlussvortrag zu: "Wenn alle Araber zu Hause bei ihren Tastaturen und Tablets geblieben wären, hätte es keinen Arabischen Frühling gegeben." Ohne die Macht der Performance vielleicht auch nicht.