„Die Kinder rekonstruieren die Verletzungen“
Roger Willemsen berichtet in seinem neuen Buch von der Lebenssituation afghanischer Kinder
Herr Willemsen, Ihr neues Buch heißt "Es war einmal oder nicht" und beschreibt die Welt der Kinder in Afghanistan. Es ist reich illustriert mit Zeichnungen afghanischer Kinder. Wo haben Sie die her?
Bei meinem ersten Besuch in Afghanistan im Winter 2005 sah ich, dass die Kinder in der Schule selbst bei zwanzig Grad unter null ohne Heizung gerne mit Buntstiften arbeiteten. Ihre Zeichnungen waren sehr individuell, denn es existieren kaum Vorbilder, wie man zeichnet. Gleichzeitig waren sie auch so etwas wie die Verarbeitung von Traumata. Das Malen war eine Möglichkeit, von Bombenattentaten, Minenexplosionen oder Überfällen zu erzählen. Und so hat der afghanische Frauenverein, für den ich als Schirmherr tätig bin, beschlossen, das Malen besonders zu fördern. Von einigen Schülerinnen bekam ich Zeichnungen geschickt, und weil sie so wunderschön und besonders waren, fing ich an, sie zu sammeln.
Der Afghanische Frauenverein unterstützt besonders Mädchenschulen. Stammen die Bilder und Texte ihrer Sammlung ausschließlich von Mädchen?
Die Zeichnungen stammen alle von Mädchen, denn sie zu fördern, erscheint uns tatsächlich am allerwichtigsten. Im Fall einer Mädchenschule mussten wir zum Beispiel mit den Taliban verhandeln. Sie hätten nichts gegen unsere Schule, sagten sie. Wenn wir es schafften, das Lehrpersonal weiblich zu besetzen, könnten wir auch weiterhin unterrichten. Doch es ist schwer, Lehrerinnen zu finden. Wir haben es jetzt zum ersten Mal erlebt, dass eine unserer ehemaligen Schülerinnen nicht nur studiert hat, sondern als fertige Lehrerin wieder in die eigene Schule zurückgekommen ist. Die Briefe dagegen sind nicht nur von Mädchen. Ich habe auch einige von Jungen erhalten.
Was zeichnen die Kinder? Wovon erzählen sie?
Am Anfang haben wir sie ganz frei zeichnen lassen. Da haben die Mädchen häufig ihre Wünsche gemalt und wollten zum Beispiel einen gelben Schirm. Später haben wir sie aufgefordert, uns ihren Alltag zu zeichnen. Häufig war die Gegenwart des Krieges in diesen Bildern vom Tierehüten und der Feldarbeit schon so prägnant formuliert, dass wirsie, um nicht nur Kriegsbilder zu bekommen, gebeten haben, auch Landschaften zu malen oder ihre Vorstellung von unserem Leben neben ihrem eigenen. So entstanden kleine Zyklen, aber es gibt auch einiges, was jenseits dieser Genres liegt.
Was bedeuten Ihnen diese Kinderbilder und Texte? Warum schenken Sie ihnen so viel Aufmerksamkeit?
In einem Land, in dem Kultur im materiellen Sinne kaum mehr besteht, muss man sie zuerst immateriell entwickeln. Man muss Antworten auf einfache Fragen finden: Wie liebe ich? Wie tröste ich? Wie trauere ich? Wie begehre ich? Wie albere ich herum? Wie werde ich bitter? - alle diese Dinge, die zwischen Menschen hin und her gehen ohne manifest zu werden. Man muss wahrnehmen, am eigenen Lebensraum teilhaben, sich engagieren und etwas formulieren. Die Zeichnungen und Texte der Kinder verraten eine sehr prägnante Beobachtung des eigenen Umfeldes. Es sind insofern wertvolle Kulturäußerungen.
Worin zeigt sich die Beoachtungsgabe der Kinder zum Beispiel?
Militärisches ist oft bis in die Details von drastischer Präzision gemalt. Sie können in einer Kinderzeichnung den Flugzeugtypus, der eine Bombe abwirft, erkennen. Die Kinder rekonstruieren exakt die Art der Verletzung, die man durch eine Mine bekommt, oder welchen Schaden eine Bombe anrichtet, die an einem Haus detoniert.
Gibt es auch Bilder vom Glück?
Die Idylle ist für afghanische Mädchen mit der Natur verbunden, mit den Tieren und der Vegetation. Auf Bildern vom glücklichen Leben sind Blumen zu sehen, Schmetterlinge, das Baden im Fluss und ganz oft auch das Picknicken. Das ist eine häufig gemalte Idylle: Die Afghanen sitzen essend auf dem Boden und im Hintergrund sieht man grasende Schafe und Kamele und vielleicht ein Nomadenzelt.
Und wie stellen sich die Kinder in ihren Zeichnungen die westliche Welt vor?
Wir Westler sitzen immer auf Möbeln, doch wir können gar nicht richtig sitzen, wir fläzen. Wir leben in sehr gut ausgestatteten, aber irgendwie kalten und naturfernen Räumen. Unsere Welt besteht aus Hochbauten, Straßen, einer abweisenden Infrastruktur ohne Natur und Geselligkeit. Unter den Taliban waren auch den Kindern das Spielen und das Malen verboten.
War es deshalb schwer, sie zum Malen zu motivieren?
Es ging sogar so weit, dass selbst Tätowierungen nicht erlaubt waren und manch einer sie sich mit Zigaretten aus der Haut brannte. Ganze Kapitel der Kulturgeschichte sind für immer verschlossen, weil es keine Bildarchive mehr gibt. Bei den Kindern hatte ich anfangs auch manchmal das Gefühl, sie fürchten, sie könnten bestraft werden. Ich habe auch erlebt, dass Kinder, die auf einem Platz gespielt hatten, zu uns sagten: "Wir wissen, ihr wollt uns jetzt schlagen." Und wir fragten: "Warum sollten wir das tun?" "Ja weil es doch verboten ist zu spielen." Aber heute ist den Schulkindern klar, dass sie malen dürfen.
Sie haben nicht nur die Kinder malen und schreiben lassen, sondern sind im Herbst 2012 selbst noch einmal nach Afghanistan gereist, um über das Land zu berichten. War das schwierig?
Ich fühle mich hier manchmal geradezu stranguliert, weil Afghanistan fast ausschließlich aus der Perspektive der Bundeswehr dargestellt wird. Wie Kurt Krömer, Till Schweiger, Peter Maffay oder Ralf Möller nach Afghanistan reisen, um dort die Truppenunterhalter zu geben. Meine Intention ist es, das zivile Afghanistan in Erscheinung zu bringen. Mich inte- ressiert das Land jenseits des Krieges, in seinem bürgerlichen Engagement, seinem Versuch, Kultur zu begründen. Dafür musste ich aufs Land und in die Dörfer reisen. Das war schwierig und ohne Personenschutz nicht möglich. Mein Fahrer war ein ehemaliger Mudschahid, der auch Kontakte zu jenen hatte, die mich hätten gefährden können. Dadurch entstand ein bisschen mehr Sicherheit.
Sie haben die Kinder besucht, die Ihnen ihre Texte und Bilder geschickt hatten. Wie haben sie reagiert?
Das ist so eine Gemengelage aus großer Schüchternheit, Respekt und einer großen Erleichterung, wenn man anfängt, mit ihnen zu spielen und selbst kindisch zu sein. In der Schule, die ich zuletzt besuchte, Bojasor, gibt es einen Brunnen, auf dessen Sockel mein Name steht. Als ich um den Brunnen herumtobte und die Kinder mich nass spritzten und ich zurückspritzte, da entstand eine Art Schwerelosigkeit. Später habe ich die elf Mädchen gesehen, die in der Abiturklasse sind, und mir war sehr bewusst: Das sind die wahren Heldinnen. Diese Mädchen haben sich durch alle Widerstände gekämpft, um Zugang zur Bildung zu haben.
Sie schreiben, dass Sie nirgendwo auf der Welt bei Kindern eine so entwickelte politische Bildung erlebt haben wie in Afghanistan. Worin zeigt sich für Sie diese Reife?
Sie ist eng verbunden mit der Leidensgeschichte der Kinder. "Warum habe ich keinen Onkel?", fragt zum Beispiel ein Kind. Der ist unter Hekmatyar gestorben, lautet die Antwort. Wer ist Hekmatyar? Die Politik definiert den Lebensraum so stark, dass die Kinder das Politische dauernd wahrnehmen müssen.
Was bedeutet den Kindern der Frieden?
Buchstäblich alles. Sie haben eine Vorstellung von Frieden, die pathetischer und leidenschaftlicher ist als alles, was dieser Frieden je wird einlösen können. Das liegt daran, dass sie einfach unablässig gefährdet sind.
In Ihrem Buch erzählen Sie von vielen berührenden Begegnungen auf dieser Reise. Sie berichten von großer Armut, von Drogensucht und Kindern, die wie Greise aussehen. Trotzdem haben Sie auch Fortschritte gesehen. Was hat sich seit Ihrem letzten Besuch zum Positiven verändert?
Es gibt Dinge, die mir irreversibel erscheinen. Man sieht mehr Frauen Autofahren. Frauen tragen weniger Burkas, spielen Fußball und wollen Lehrerinnen werden, Ärztinnen oder Ingenieurinnen. Die Mädchen und Jungen wünschen sich einen Beruf, der sich für das Gemeinwohl starkmacht und mit dem sie dem Land dienen können. Das kommt ganz selbstverständlich, wenn man sie fragt. Alle stellen sich die Zukunft als etwas vor, woran die Afghanen gemeinschaftlich arbeiten müssen.
Wie sehen die Menschen in Afghanistan dem Abzug der ausländischen Truppen entgegen?
Als man sah, dass die Hilfsmission spätestens mit dem Awacs-Einsatz in eine militärische Mission umschlug, da hieß es: Verlasst unser Land! Ihr seid falsche Freunde und genauso schlecht wie alle anderen. Der Symbolcharakter dieser Flugzeuge war immens. Doch jetzt sind wieder mehr Menschen für die Präsenz der internationalen Kräfte. Sie fürchten, nach dem Abzug im Stich gelassen zu werden. Man wird Afghanistan in einem weit chaotischeren Zustand verlassen, als man hineingegangen ist. Die Taliban sind stärker, als sie es damals waren. Noch mehr Angst haben die Afghanen aber vor den Milizen. Diese Kräfte machen durch Rechtlosigkeit und mangelnde Voraussehbarkeit ihrer Aktionen den Menschen in Afghanistan sehr viele Sorgen.
Was können wir in dieser Situation tun?
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass jenseits aller politischen Vorgänge das Volk medizinisch versorgt wird, sauberes Wasser hat und auch der Schulunterricht im nächsten Jahr noch existieren wird. Es muss in dieser schwankenden Situation eine Form von Kontinuität, von Verlässlichkeit im zivilen Bereich geben, auch wenn diese Arbeit unablässig gefährdet ist.
Es war einmal oder nicht. Afghanische Kinder und ihre Welt. Von Roger Willemsen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013. Alle Erlöse des Buches fließen an den Afghanischen Frauenverein e.V.
Das Interview führte Karola Klatt