Für Mutige. 18 Dinge, die die Welt verändern

Der Bürgerhaushalt

Viele wirtschaften besser: Wie Städte und Kommunen sich verändern, wenn Bürger über öffentliche Ausgaben entscheiden dürfen

Als eine der erfolgreichsten demokratischen Erneuerungen der letzten 25 Jahre gilt der sogenannte Bürgerhaushalt - die direkte Einmischung der Bevölkerung in Entscheidungen wirtschaftlich-finanzieller Art. Mehr als 2.700 Mal ist diese radikale Idee, die im Süden Brasiliens Ende der 1980er-Jahre geboren wurde, inzwischen auf Gemeinde-, Provinz- und sogar Regionalebene verwirklicht worden. Diese Erfolgsgeschichte über alle fünf Kontinente hinweg ging von Ländern aus, die aus unserer westlich-zentrierten Sicht immer als "Peripherie" galten.

Beim Bürgerhaushalt wird das Investitionsbudget, über das lokale oder regionale Behörden verfügen, teilweise oder ganz der direkten Entscheidung der Einwohner überlassen. Sie bestimmen, wofür das zur Verfügung stehende Geld ausgegeben wird. Warum erfreut sich die Einbindung der Bürger in Haushaltsfragen auf der ganzen Welt zunehmender Beliebtheit? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, denn sie liegt in der vielfältigen Gestalt des Bürgerhaushalts, in seiner variablen Geometrie verschiedenster Ziele und Wirkungen.

Der Harvardprofessor Archon Fung unterscheidet zwischen Bürgerhaushalten, die in erster Linie das Niveau der Demokratie durch mehr Mitbestimmung heben wollen, und solchen, die auf andere Werte ausgerichtet sind, zum Beispiel soziale Gegensätze zu überbrücken, die Korruption zu bekämpfen oder die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, zu erhöhen. Diese zweite Kategorie von Teilhabeexperimenten entwickelt besondere Vorgehensweisen und Techniken, um die gewünschten Ziele zu erreichen. Die Bürgerhaushalte der zweiten Kategorie sind besonders interessant, denn hier wird eine große Bandbreite konkreter politischer Bedürfnisse, die je nach Kontext, Behörde, Stadt, Land oder Kultur sehr verschieden sein können, angegangen. Im Folgenden will ich auf einige erfolgreiche Beispiele eingehen.

Anfang der 1990er-Jahre galt der Bürgerhaushalt der 1,3-Millionen- Einwohner-Stadt Porto Alegre im Süden Brasiliens als erfolgreichstes und radikalstes Beispiel dieser Art. Sein Hauptziel war es, dem schwächsten Teil der Einwohnerschaft, besonders jenen, die in den Armensiedlungen lebten, eine Stimme zu geben. Die Bürger entschieden in ihren Ortsversammlungen und mittels Delegierter über alle kommunalen Investitionen. Sie legten Prioritäten für die zu tätigenden Ausgaben fest und erreichten eine fairere Verteilung der öffentlichen Mittel. "Kriterien sozialer Gerechtigkeit" fanden dabei Anwendung und es gelang, die Lebensqualität in den verschiedenen Teilen der polarisierten Stadt auszubalancieren. Andere Kommunen Brasiliens folgten in den letzten zwanzig Jahren diesem Weg.

In Belo Horizonte zum Beispiel benutzen die Bürger einen "Index für Lebensqualität", um mehr öffentliche Mittel in jene Distrikte zu lenken, die sozial schwach sind und traditionell von öffentlichen Investitionen ausgenommen wurden. In Fortaleza ließ man Kinder und Jugendliche direkt an den Entscheidungen über öffentliche Finanzierungen teilhaben. Und in Recife konnte man die Prävention von Katastrophen erstaunlich verbessern, als man das Risikomanagement der Stadt in die Entscheidungsgewalt der Bürger legte und mithilfe eines leicht zugänglichen, internetbasierten Systems Ausgabeprioritäten vorschlagen und abstimmen ließ.

Im Norden Brasiliens schufen Bürgerhaushalte oft erst die Voraussetzungen für eine nachhaltige Partizipation der Zivilgesellschaft. Hier arbeiteten öffentliche Institutionen weit unter den minimalen Standards zum Beispiel bei der Rechenschaftslegung über Einnahmen und Ausgaben oder der Koordination kommunaler Dienstleistungen. Die Beispiele belegen, dass Beteiligungshaushalte ein guter Ausgangspunkt für den Umbau politischer Institutionen sein können. Dabei geht es nicht nur um ihre demokratische Funktion, sondern um ihre Fähigkeit, ein Gebiet gut zu verwalten und die administrativen Aufgaben zu koordinieren.

Dieses Ziel wird besonders auch bei der Expansion der Bürgerhaushalte auf dem afrikanischen Kontinent deutlich, wo sie einen entscheidenden Einfluss auf Dezentralisierungsprozesse haben. Das stellte 2012 auch die United Cities and Local Government Association fest und rief einen Preis ins Leben, der die Ausbreitung von Beteiligungshaushalten fördern soll. In Dakar im Senegal, in Antananarivo auf Madagaskar oder in Yaoundé in Kamerun kann man erkennen, wie Bürgerhaushalte dazu beitragen, Metropolen zu entwickeln. Durch den direkten Einfluss der Bürger kommt es zu einer besseren Verwendung öffentlicher Mittel und zu sinnvolleren Investitionen. Dies überzeugte sogar Mitglieder der afrikanischen Diaspora heute wieder in ihren Herkunftsstädten zu investieren.
Die Provinz Süd-Kivu in der Demokratischen Republik Kongo wurde von der Weltbank dabei unterstützt, einen Bürgerhaushalt einzuführen. Hier verbesserte sich die Zusammenarbeit zwischen lokalen und regionalen Autoritäten und es entstand eine Art "fiskaler Bürgersinn" unter den Einwohnern. Sie vertrauten wieder darauf, dass die von ihnen gezahlten Steuern auch korrekt verwendet werden, und sind mittlerweile deshalb eher bereit, Abgaben auch zu zahlen.

Die mosambikanische Hauptstadt Maputo konnte die städtebauliche Umgestaltung durch Bürgerbeteiligung vorantreiben und schöpfte dabei aus den kreativen Ideen und dem Wissensschatz ihrer Einwohner.
Selbst im zentralistisch regierten China sind Bürgerhaushalte möglich. Die 14-Millionen-Einwohner Metropole Chengdu mit ihren 2.000 assoziierten Dörfern öffnete ihre Haushaltsentscheidungen der Bürgerbeteiligung. Tatsächlich wurde aus den Diskussionen über lokale Investitionen so etwas wie eine "Schule der Demokratie" in einem Land, dessen Regierungsstellen nicht gerade ein Musterbeispiel dafür sind.

Sehr wichtig für die Ausbreitung der Beteiligungshaushalte sind "internationale Katalysatoren". Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, die Weltbank, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die Schweizerische Eidgenossenschaft - sie alle haben kommunale Bürgerhaushalte zu einem zentralen Anliegen ihrer Hilfsprogramme gemacht. Auf diesem Wege sind zum Beispiel in vielen Minenstädten Madagaskars Bürgerhaushalte entstanden, denen es gelingt, die privaten Bergbauunternehmen zur Zahlung ihrer Förderabgaben an die kommunalen Verwaltungen zu zwingen und dafür Sorge zu tragen, dass diese Lizenzgelder in den Minengebieten reinvestiert werden.

Eine wichtige Rolle spielen heute auch Regionalregierungen, die Bürgerhaushalte stärken. Das ist beispielsweise im Bundesstaat Rio Grande do Sul in Brasilien, im indischen Bundesstaat Kerala, in der westfranzösischen Region Poitou-Charentes, in der Provinz Malaga in Spanien und der Toscana in Italien der Fall. In diesen Gebieten haben sich die kommunalen Beteiligungshaushalte vervielfältigt. Ganze Nationen haben - wie Peru seit 2003, die Dominikanische Republik seit 2006 und Polen seit 2009 - durch ihre nationalen Gesetzgebungen den Beteiligungshaushalt zur verbindlichen Norm für lokale Autoritäten erhoben. Doch der wichtigste Trend der Gegenwart ist unzweifelbar das Wachsen von Netzwerken in vielen Ländern. In Kolumbien, Argentinien, Portugal, Spanien, Chile oder Brasilien kann man derzeit beobachten, wie der Austausch von Erfahrungen in Netzwerken zur Weiterentwicklung der Bürgerhaushalte und zu neuen Modellen führt.

Bürgerhaushalte, auch das zeigt ihre 25-jährige Geschichte, sind vom politischen Willen abhängig und können schnell wieder abgeschafft werden, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Wie gut die Resultate sind, hängt vor allem davon ab, wie genau die Ziele formuliert werden und ob man die geeigneten Instrumente und Verfahren dafür findet. Manche Fehlschläge zeigen zum Beispiel, dass es ohne Quotenregelungen kaum möglich ist, besonders schwache Akteure wie Migranten, Behinderte oder ältere Menschen an der kommunalen Finanzplanung zu beteiligen. Ohne solche Maßnahmen reproduzieren Bürgerhaushalte nur die gesellschaftlichen Ausschlussverfahren, statt sie auszugleichen.

Bürgerhaushalte zeigen ihre Wirkung am deutlichsten in den Ländern des Südens, besonders dort, wo sie antreten, Trends sozialer Ausgrenzung und Polarisation umzukehren. Aber wie steht es um Beteiligungshaushalte in der nordwestlichen Welt?

Früher betrachtete man in den gut funktionierenden Demokratien Bürgerhaushalte als eine Art Garnitur, als "Sahnehäubchen" für die Demokratie. Doch diese Sichtweise wandelt sich. Ein Grund dafür liegt in der Finanzkrise, die dazu führte, dass viele lokale Autoritäten mit empfindlichen Einschnitten in ihren Haushalten umgehen mussten. Es galt, die Investitionen in jene Sektoren und Projekte fließen zu lassen, welche die Mehrheit der Bürger für wirklich wichtig erachtet. Auch in industrialisierten Ländern versuchen Städte zunehmend, mithilfe eines Bürgerhaushalts ihr Image aufzupolieren, die Korruption zu bekämpfen und den Graben zwischen Einwohnern und der politischen Klasse zu überbrücken. Auch der demografische Wandel und die unwürdigen Bedingungen, unter denen viele Immigranten leben müssen, motivieren westliche Städte, in Bürgerhaushalten Lösungen zu suchen. Das erklärt, warum sich in den USA heute einige der effektivsten Modelle von Bürgerhaushalten finden lassen und in Europa die Anzahl der Beteiligungshaushalte sogar die Lateinamerikas übertrifft.

Doch ist man in der westlichen Welt und auch in einigen OECD-Ländern wie Südkorea oder Japan geneigt, sehr verschiedene Ansätze als "Bürgerhaushalte" zu betrachten, was die Gefahr birgt, die ursprüngliche Idee zu verwässern. In solchen Fällen gibt es oft keine Kontinuität der Beteiligung und schnell verschwinden Bürgerhaushalte wieder zugunsten anderer als besonders fortschrittlich und modern erachteter politischer Innovationen. Positiv an dem Trend zu Bürgerhaushalten bleibt jedoch, dass sich hier Traditionen der kommunalen Entscheidungsfindung mit kreativen, experimentellen neuen Verfahren verbinden. Auch helfen Bürgerhaushalte dabei, in einer Zeit, in der immer mehr städtische Dienstleistungen privatisiert werden, die demokratische Kontrolle zu wahren.

Aus dem Englischen von Karola Klatt