Für Mutige. 18 Dinge, die die Welt verändern

Das Paradies auf Erden

Die Hoffnung auf eine bessere Welt hat Menschen immer angetrieben. Warum Utopien trotzdem scheitern

Gelenkt wird die Welt zwar von Interessen, doch verändert wird sie durch Meinungen. Der Philosoph und Dichter Johann Gottfried Herder hatte recht mit der Behauptung, dass eine „Geschichte der Meinungen“ der „Schlüssel zur Tatengeschichte“ sei. Obgleich Meinungen die Welt also verändern, wäre es naiv zu glauben, dies geschehe stets in die richtige Richtung, mögen die Absichten und Ziele dabei noch so edel sein. Jedes französische Schulkind lernte früher die Fabel von Jean de La Fontaine, in der ein sehr wohlwollender Bär eine Fliege von der Nase des unter einem Baum schlummernden Gartenfreundes vertreiben will:

„Gesagt, getan: es packte der treue
Fliegenwedel einen Pflasterstein und
warf ihn – hui – die Fliege tötend, dem
Mann auf den Schädel“

Doch zunächst einmal gilt es, unseren Gegenstand genauer zu umreißen. Was Utopien erträumen oder anbieten, ist eine radikale Veränderung der Welt und das Erreichen einer endgültigen Vollkommenheit. Der Inhalt der angestrebten Vollkommenheit ist dabei zweitrangig. Im Grunde geht es stets darum, eine Idealstadt zu gründen, eine vom Lauf der Zeit und den Wunden der Geschichte losgelöste Gesellschaft, in der alle Bürger gleich, frei und glücklich sind und in Eintracht miteinander leben. So wird sie in den großen utopischen Erzählungen beschrieben, als die Errichtung einer gemäßigten und rationalen Welt durch den Menschen, eine Art Paradies auf Erden.

Sobald es nun aber darangeht, zur Tat zu schreiten – die Welt also ernsthaft zu verändern und den Traum zu verwirklichen –, gerät leider alles ins Wanken. Anscheinend sind diese Welt und die Menschen, die sie bevölkern, nämlich für Idealstädte nicht geschaffen. Sie sind nicht imstande, die Zwänge, die ihnen die Utopisten „zu ihrem größten Wohl“ auferlegen wollen, über längere Zeit zu ertragen. Ebenso wenig ist der Mensch dazu bereit, auf das zu verzichten, was ihn als Menschen ausmacht, seine persönliche Geschichte, seine Träume und Wünsche, seine Schwächen und seine Besonderheiten. Zum größten Unmut der Utopisten möchte er oftmals lieber ein unvollkommener Mensch bleiben, als ein Gott inmitten anderer Götter zu werden. Und so nimmt das tragische Schicksal seinen Lauf.

Denn der Utopie kommt es auf die Methoden nicht an. Für sie heiligt der Zweck zwangsläufig die Mittel. Und weil dieser Zweck ein erhabener ist – nämlich allen Menschen die Pforten zum Paradies zu öffnen, – so wie auch jene, die ihn ablehnen, nur Monster sein können, denn nur ein Monster ist fähig, etwas, das so über alle Maßen gut ist, nicht zu wollen –, ist der Utopie jedes Mittel recht. Auf diese Weise gleitet sie in den Totalitarismus ab, der immer auf einer utopischen Grundlage fußt, wie es die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts bis zum Überdruss zeigt.

In dem Augenblick, wo sie in die Tat umgesetzt werden soll, fällt die Utopie unweigerlich und ungeachtet ihrer Absichten der Lächerlichkeit anheim oder verkehrt sich ins Entsetzliche. Lächerlich wird sie, wenn sie lediglich eine Handvoll Freiwilliger um sich schart, um in irgendeinem entlegenen Winkel der Erde ein Ikarien zu gründen. Ein derartiges Unterfangen dauert selten länger als ein paar Monate und endet gewöhnlich mit einer überstürzten Auflösung der Gruppe, mit Bankrott und Gerichtsprozessen. So wurde der amerikanische Kontinent in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem riesigen Utopienfriedhof. Viele enttäuschte Illusionen wurden dort zu Grabe getragen, etwa die von Robert Owen, der geglaubt hatte, mit der von ihm gegründeten Stadt New Harmony eine Gesellschaft errichten zu können, die ganz ohne das Prinzip der Verantwortung auskäme, in dem er die Hauptursache allen menschlichen Unglücks sah.

Ähnlich erging es dem Sozialisten Étienne Cabet und dem von den Lehren des Sozialtheoretikers Charles Fourier beeinflussten Victor Considerant, die sich nach dem Scheitern ihrer ebenfalls in Amerika gegründeten kommunistischen Idealsiedlungen eingestehen mussten, dass Menschen nun einmal keine Engel sind. Absurd ist auch der Fall des Kommunisten Noyes in Oneida, New York, der die Ehe im Namen der freien Liebe verboten hatte und später wegen Sittlichkeitsvergehen an Minderjährigen polizeilich verfolgt wurde und floh.

Doch das Lächerliche kommt dem Entsetzlichen stets sehr nahe, zumindest dann, wenn die Utopie ihren Traum mit Gewalt durchzusetzen vermag und ihre Wortführer Lenin, Hitler, Mao oder Pol Pot heißen. Entsetzlich wird sie, weil sie im Namen des irdischen Paradieses, das sie für tausend Jahre oder gar für ewig zu errichten bestrebt ist, zwangsläufig dazu übergeht, einen jeden zu kontrollieren, einzuschränken und zu überwachen, die Unentschlossenen und die Lacher zu bestrafen und ohne Erbarmen oder Skrupel all jene zu beseitigen, die sie verdächtigt, ihrer Erfüllung im Wege zu stehen – seien es nun Adlige oder Bürger, Juden oder Zigeuner, Bosnier oder Tutsi, Christen oder Muslime, Homosexuelle oder Intellektuelle. Um die Welt auf ihre Art zu verändern, kennt die Utopie kein Maß. Und tatsächlich verändert sie die Welt, allerdings dergestalt, dass sie sie für unbestimmte Zeit in Nebel und Finsternis versinken lässt.

Doch sollten wir deshalb freilich nicht alle Hoffnung aufgeben und glauben, die Menschheit sei nicht imstande, Dinge zu verändern. Damit dies jedoch gelingt, muss sie lernen, auf Träume zu verzichten, die ihr, wie die Geschichte zeigt, nur Unglück und Enttäuschungen einbringen. Das höchste Paradox der Utopie besteht nun einmal darin, dass sie mit der Hoffnung auf einen radikalen Fortschritt und der Aussicht auf ein greifbar nahes Paradies auf Erden lockt und gerade dadurch jegliche Entwicklung hemmt oder gar umkehrt. Aus diesem Grund kann der Mensch sich nur, wenn er derartige Träume aufgibt und endlich erwacht, zu voller Größe aufrichten und seinen Weg fortsetzen.

Aus dem Französischen von Henrike Rohrlack

 

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