Verlorenes Wissen
Wie kann man trauern, wenn man fast nichts über den Tod lernt?
Kann man den Tod zähmen? Nach Jahrtausenden der Religionen, der rituellen Bräuche möchte man meinen, jede Gesellschaft habe ihren Weg gefunden, mit ihm zu leben – das Sterben bleibt jedoch problematisch. Wir wissen, dass der Tod unausweichlich ist, und sehen ihn zugleich als unerträglich an. Vielleicht erklärt ja diese tief in uns steckende Ablehnung den enormen Aufwand, der im Gesundheitssektor betrieben wird, um das Ende des Daseins hinauszuzögern. Jede neue medizinische Meisterleistung verkündet: Gewiss, wir werden sterben, aber so spät wie möglich! Mit diesem faustischen Verlangen hat die Menschheit dem Tod den Krieg erklärt, das Unausweichliche wird als Ungerechtigkeit erlebt.
In der westlichen Welt der Hochleistungswissenschaft und -medizin scheint die Frage angebracht, ob man noch auf natürliche und humane Art stirbt. Ist es von Unfällen einmal abgesehen im Falle eines Todes noch der Mensch, der seine biologische Grenze erreicht hat, oder die Medizin, die an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen ist? Würde die moderne Medizin die Natur nicht immer wieder überlisten, würde sich die Frage der Sterbehilfe, die zurzeit in Europa zur Debatte steht, nicht stellen. Man schaltet nichts ab, was nicht angeschaltet worden ist.
In den Fernsehnachrichten berichten Journalisten mit schöner Regelmäßigkeit über Katastrophen, ohne dass die Zahl der Toten jemanden daran hindert, zu Abend zu speisen. Es liegt nicht an unserer Gefühllosigkeit, es scheint eher der unannehmbare Charakter des Todes zu sein, der unser Bewusstsein veranlasst, ihn in eine fiktive Größe zu verwandeln. In der westlichen Welt, wo man Beileidsbekundungen am Telefon oder per SMS empfangen kann, sollte man glauben, der Tod würde akzeptiert, er gehöre zum Alltag. Aber ist diese vermeintliche Banalität nicht eher ein Zeichen der äußersten Distanzierung? In Krankenhäusern versteckt, aus dem täglichen Leben verschwunden, ist uns der Tod längst nicht mehr vertraut – er wird immer abstrakter. Zu den Begräbnissen kommen immer weniger Menschen zusammen, sie werden nicht mehr von klein auf mit der Trauer konfrontiert, wie es früher in den traditionellen Gesellschaften üblich war. So wie manche Kinder, die nur noch Fischstäbchen aus dem Supermarkt essen und nicht mehr wissen, dass Fische Schuppen haben, so lernen viele Menschen den Tod erst kennen, wenn nächste Verwandte oder Freunde sterben. Aber wie kann man trauern, wenn man fast nichts mehr über den Tod lernt? Waren es nicht Religion und Kultur die ineinandergriffen, um Trost zu spenden?
In dem großartigen Gedicht „Hauch der Ahnen“ des senegalesischen Dichters Birago Diop heißt es:
Die gestorben sind, sind niemals fort,
Sie sind in den Brüsten des Weibes,
Sie sind in dem Kind ihres Leibes,
Sie sind in dem Streit, der sich regt.
Sie sind nicht unter der Erde:
Sie sind in dem Brand, der sich legt,
Sie sind in den Gräsern, die weinen,
Sie sind in den Felsen, die greinen,
Sie sind im Wald, in der Wohnung, im Brot:
Die Toten sind nicht tot.
In meiner Muttersprache Serer Niominka, die in einer Region im Senegal gesprochen wird, die noch von der animistischen Tradition geprägt ist, sagt man, wenn jemand stirbt: „Er ist uns vorausgegangen.“ Die Idee des Voranschreitens schreibt sich in das menschliche Leben ein – ein kontinuierlicher Weg. Auf dieser symbolischen Route hinterlässt derjenige, der uns vorausgeht, eine Spur. Wir können dieser Spur folgen wie einer Spur im Wald, um nicht vom Weg abzukommen. Der uns Vorausgehende ist somit eine Art Wegbereiter, jemand, der sich dem beschützenden Bund dieser Weggemeinschaft verpflichtet fühlt, weil es auf diesem Weg zu einem Wiedersehen kommen wird. Beim Kétala, der traditionellen Erbteilung im Senegal, die sich heute allerdings meist nach muslimischen Gesetzen vollzieht, wurden früher acht Tage nach dem Tod die hinterlassenen Gegenstände eines Verstorbenen unter den Hinterbliebenen aufgeteilt. Es war ein Zusammenkommen, um die Erinnerung an den Toten wachzuhalten und sie mit dem Erbe auf der Straße der Ahnen zu übergeben.
Aus dem Französischen von Katrin Thomaneck