„Tolstoi macht mich glücklich“

Ein Gespräch mit dem Autor über russische Helden und seine Wahlheimat Schweiz

Sie sind auf den Spuren von Lord Byron und Lew Tolstoi durch die Schweiz gewandert. Was verbindet Russen und Schweizer?

Beide glauben, dass Ausländer sie nicht verstehen können. Eine oder zwei Türen stehen noch für den Fremden offen, die anderen werden ihm vor der Nase zugeschlagen. Das war eine Herausforderung für mich, als ich in die Schweiz zog.

Nach zehn Jahren gibt es jetzt eine Neuauflage Ihres Wanderbuchs, das vor allem eine europäische Kulturgeschichte ist. Was hat sich seitdem verändert?

Hat sich die Welt in dieser Zeit verändert? Habe ich mich verändert? Haben sich die Schweiz und Russland verändert? Offensichtlich ja, aber diese Fragen sind nicht von Belang. Ich bin der Meinung, dass sich ein Buch immer mit dem Leser verändert. Der Leser macht das Buch. „Auf den Spuren von Byron und Tolstoi“ ist eine Wanderung durch die Geschichte. Ich wollte die Schweiz, meine Wahlheimat, verstehen. Und verstehen heißt für mich schreiben.

Warum haben Sie sich gerade für Tolstois und Byrons Wege interessiert?

1816 wanderte Byron von Montreux ins Berner Oberland. Und 40 Jahre später wiederholte Tolstoi den gleichen Weg – ohne zu wissen, dass er auf den Spuren von Byron wanderte. Ich selbst habe mich mit meinem Laptop auf den Weg gemacht. Im 19. Jahrhundert haben sich in Russland alle Dichter an Byron gemessen. Er zeigt, dass die Person des Dichters wichtiger ist als der Staat, die Armee oder die Ideen des Vaterlandes.

Was bedeutet Ihnen Tolstoi? 

Von allen russischen Autoren ist, war und bleibt Tolstoi für mich der wichtigste. Ich bewundere seine Ehrlichkeit sich selbst und der Welt gegenüber. Auf meinem Nachttisch liegt immer „Krieg und Frieden“. Es ist wie mit guter Musik. Wenn ich Rachmaninows unsterbliche Musik höre, werde ich in diesem Moment auch ein bisschen unsterblich. Genauso ist es mit Tolstoi. Wenn ich deprimiert bin oder schlechte Laune habe, öffne ich „Krieg und Frieden“. Tolstoi macht mich glücklich.

Sie schreiben in Ihrem Buch, in Russland gäbe es keine Tradition des Wanderns. Warum nicht?

Wenn du in Russland eine Stunde wanderst oder auch drei Tage, siehst du die gleiche Landschaft. Visuell gesehen macht das Wandern dort keinen Sinn. In der Schweiz dagegen wandert man eine halbe Stunde und sieht drei schöne Landschaften. Als die Mode des Wanderns Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, gingen auch die russischen Intellektuellen wandern – aber in Europa. 

Wie Sie selbst!

Ja, in Russland ging ich nie wandern, aber in der Schweiz bin ich auf den Geschmack gekommen. Wenn ich jetzt einige Tage nicht wandere, fühle ich mich schlecht. Vielleicht kommt das mit dem Alter. Wenn man jung ist, braucht man Lärm, Ideenaustausch und viele Leute. Später will man Berge sehen, einen schönen Sonnenuntergang und möglichst mehr Murmeltiere als Menschen (lacht).

Sie schreiben in Ihrem Buch, jede Gesellschaft sei „durch unsichtbare Fäden verbunden“, die man erkennen müsse, um sich nicht in Gefahr zu begeben. Was ist in diesem Sinne typisch für die Schweiz?

Im Westen ist das Leben sehr auf den Menschen ausgerichtet. Alles soll bequem sein. Hier lernst du schnell, die Fäden zu ziehen. Wenn du die Regeln kennst und befolgst, kann dir nichts Schlimmes passieren. Problematisch wird es aber, wenn du nicht zu diesen Regeln passt. In der Schweiz fühle ich mich wie in einer Werkstatt.

Inwiefern?

Es gibt alle möglichen Werkzeuge, aber man muss wissen, was man damit machen will. Wenn du das nicht weißt, hast du ein Problem. Ich sehe das an meinem älteren Sohn Mischa, der 1988 noch in der Sowjetunion geboren wurde. Heute hat er alle Möglichkeiten, aber er weiß nicht, was er will. In meiner Jugend wusste ich ganz genau, was ich wollte: Schriftsteller werden und reisen. Aber ich durfte weder schreiben, was ich wollte, noch reisen.

Heute sind Sie ein Grenzgänger, seit 1995 leben Sie in der Schweiz. Welche Fauxpas können einem Russen dort passieren?

Da fällt mir eine Geschichte aus dem Herbst 1995 ein, die ich nie vergessen werde. Als ich mit meiner Familie spazieren ging, kamen uns im Wald plötzlich fünf Jugendliche entgegen. Sie waren im schlimmsten Alter – um die 16 Jahre – und wirkten aggressiv. In Russland wäre das eine gefährliche Situation. Ich dachte: Ich muss meine Familie verteidigen! Sie sind zu fünft, ich bin allein. Das Einzige, was ich tun kann, um einen Vorteil zu haben, ist, als Erster zuzuschlagen. Und als ich schon dazu bereit war, hörte ich plötzlich ein freundliches „Gruezi miteinand“!

Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen. Von Michail Schischkin. Rotpunktverlag, Zürich, 2012.

Das Interview führte Carmen Eller