Später Ruhm
Die meisten Argentinier ehren ihre Helden erst dann, wenn sie tot sind
Argentinien ist ein vom Tod besessenes Land. Das mag ungesund klingen, ist es aber nicht unbedingt. Jeder Erwachsene, der die vergangenen Jahrzehnte in Argentinien verbracht hat, unterhält ein enges, wenn nicht intimes Verhältnis mit ihm. Argentinien ist das Land, das in den 1970er-Jahren die politische Gewalt als Alltag kennenlernte und danach den Genozid. 30.000 Verschwundene, deren Überreste größtenteils unauffindbar sind, fast 30.000 Gespenster, die uns noch immer heimsuchen. Das Land, das 1992 und 1994 die durch Rassenhass motivierte Sprengung der israelischen Botschaft sowie des jüdischen Hilfswerks AMIA erlitt. Das in kurzen Abständen von Unglücken getroffen wurde, deren Zündfunken, schlechterdings, immer auf menschliches Versagen zurückzuführen waren: der Absturz eines LAPA-Flugzeugs 1999, der Brand in der Konzerthalle Cromañón 2004, das Entgleisen eines Zugs im Stadtviertel Once Anfang dieses Jahres. Und es ist das Land, das angesichts des Todes bestimmter Persönlichkeiten auf die Straße geht, um seine Trauer zu zeigen: So geschah es nach dem Tod Evitas 1952, dem Peróns 1974 und auch 2010, als der Expräsident Néstor Kirchner überraschend von uns ging.
Niemand kann behaupten, dass dieses Nachbarschaftsverhältnis mit dem Tod neu wäre. Vielmehr hat er uns seit Beginn unserer Geschichte umschlichen. Das Argentinien, das wir kennen, entsteigt einer Folge von Gemetzeln. Da wäre zunächst das durch die Hand der Eroberer an der indigenen Bevölkerung verübte. Dann das der Gauchos, der Nachfahren jener Abenteurer, die ironischerweise die Arbeitskräfte gewesen waren, derer sich das Heer bedient hatte, um sich der letzten Eingeborenen zu entledigen. Aber nicht einmal die Vertreibung der Kolonialmächte und die Errichtung der Republik genügten, um Frieden zu erlangen. Als forderte die Erbsünde Argentiniens noch immer ihren Tribut.
Uns Argentiniern fällt es schwer, Abstand zum Tod zu gewinnen, da unsere Identität einer Dynamik der Gewalt entspringt. Laut dem Schriftsteller Ricardo Piglia nimmt unsere Literatur ihren Anfang mit dem Text „El matadero“, den Esteban Echeverría 1838 schrieb und der allerdings erst viel später bekannt wurde – als Echeverría nämlich schon tot war. Der Inhalt der Erzählung ist simpel: Ein eleganter, gebildeter junger Mann – das offensichtliche Alter Ego des Erzählers – gerät an Gauchos, die gerade einen Stier geschlachtet haben. Diese Barbaren nutzen ihre Überzahl, um den jungen Kerl gefangen zu nehmen – unter dem Vorwand, dass er Teil des Widerstands gegen den machthabenden Caudillo sei. Sie erniedrigen ihn mit unterschiedlichen Mitteln, schaffen es jedoch nicht, ihm seine Würde zu rauben, da der junge Mann, bevor dies geschehen könnte, aufgrund seines Zorns innerlich explodiert und stirbt.
Auf diesen Seiten liegt der Schlüssel zu vielem, was sich später ereignen sollte: die Dialektik der Konfrontation, die eine Gesellschaft spaltet; das Grauen vor dem anderen, der als grob und brutal vorgestellt wird, während er nichts als ein Unbekannter ist; und die Versuchung des Künstlers, den Platz des Opfers einzunehmen, selbst wenn er meist, seiner Ausbildung entsprechend und aus freier Entscheidung, zur Seite der Täter gehört.
Im Lauf unserer kurzen Geschichte haben die privilegierten Argentinier einen Feind gesucht, auf den sie ihre Phobien und ihre Gewalt richten konnten. Die Bezeichnungen für diesen verunglimpften anderen haben sich mit den Jahrzehnten geändert: (der „cabecita negra“, Schwarzköpfchen, für den Angehörigen der Arbeiterklasse; der „Subversive“ der 1970er-Jahre – dessen Repression die Mittelschichten rechtfertigten, indem sie sagten: „Irgendwas wird er schon angestellt haben“; schließlich der „pibe chorro“ für den kleinkriminellen Jugendlichen aus den Vororten, vor dem man gegenwärtig Angst hat, als handele es sich um den Staatsfeind Nr. 1. Was sich jedoch nicht geändert hat ist die Notwendigkeit, gesellschaftliche Gruppen, die als Angstgegner angeklagt werden, auszumachen, um sie später zu verfolgen.
Dieser Vernichtungswunsch entspricht weitgehend einem Gefühl der Unsicherheit: der Angst, eines Tages festzustellen, dass wir nicht das Europa Lateinamerikas sind, wie wir immer glauben wollten, sondern gerade einmal Lateinamerika. Im 20. Jahrhundert nutzten die Diktaturen und die neoliberalen Regierungen von Carlos Menem bis Fernando de la Rúa, die Argentinien zugrunde richteten, diese Angst. Letzterer trieb uns in den Staatsbankrott und floh mit dem Hubschrauber aus dem Regierungssitz, Dutzende von Toten hinter sich lassend.
In den vergangenen zehn Jahren haben sich viele Dinge verändert, das Monster der Intoleranz aber lebt. Wie der Hydra in der Mythologie wachsen ihm für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nach. Selbst in ruhigen Zeiten wie der Gegenwart findet es immer irgendeinen Weg, seine kannibalischen Triebe zu kanalisieren. Wenige Länder behandeln ihre großen Persönlichkeiten mit solcher Grausamkeit: Erst nach dem Tod beruft man sich auf sie, jedoch nie zu Lebzeiten. Von den Gründungsvätern (San Martín starb im Exil) bis hin zu den politischen Figuren des 20. Jahrhunderts (Evitas Leichnam wurde jahrzehntelang versteckt gehalten, um dem Peronismus einen Fetisch zu entwenden, der Leib des Che Guevara wurde erst 1995 identifiziert). Von Künstlern, die erst als Tote unanfechtbar sind (obwohl er bereits krank war, gelang es Julio Córtazar nicht, vom Präsidenten Alfonsín empfangen zu werden, und starb 1994 in Paris; Borges entschied sich dazu, seine letzten Jahre weit weg von Argentinien zu verleben) bis hin zu Sportlern, die im Elend enden (der Boxer Gatica starb unter den Rädern eines Zuges) oder der Kriminalität verfallen wie der ehemalige Weltmeister Carlos Monzón.
Bei Néstor Kirchners Tod war ich in Barcelona, aber die Elektrizität, welche die Nachricht erzeugte, erreichte mich mit Lichtgeschwindigkeit. Zu dem Zeitpunkt war Kirchner bereits Expräsident, der Regierung als Anführer des Peronismus aber verbunden – nicht zuletzt weil seine Frau Cristina Fernández nun das höchste Staatsamt bekleidete. Aber Kirchners Person polarisierte mittlerweile: verunglimpft durch mächtige Interessengruppen (die oligopolistischen Massenmedien, die grundbesitzende Oligarchie, die ehemaligen Führung des Militärs und ihre zivilen Komplizen) und auch durch einen Teil der Mittelschicht, traditionell antiperonistisch. Es genügte die Nachricht seines Ablebens, damit die Menschen auf die Straße gingen. Das Spektakel des Schmerzes bewegte selbst die, die ihm Gleichgültigkeit entgegenbrachten, und seine störrischsten Gegner sahen sich gezwungen, ihren Zorn herunterzuschlucken (selbstverständlich mit Ausnahmen: eine Fernsehmoderatorin fragte sich live, ob Kirchner in dem Sarg liege, für den Zehntausende von Menschen stundenlang Schlange standen, um Abschied zu nehmen; und eine Oppositionspolitikerin legte nahe, die Trauerkundgebung sei von einer Theatergruppe organisiert worden).
Ich habe diese Szenen im Internet gesehen. Es hat mich traurig gestimmt, festzustellen, dass wir erneut in dieselbe Falle getappt waren wie früher schon: die Person, welche außergewöhnliche Züge aufweist, zu bekämpfen, bis sie umzingelt ist, und ihr, ist sie einmal tot, die Verdienste anzuerkennen, die wir ihr zu Lebzeiten abgesprochen hatten.
Ein anderer Expräsident, Domingo Sarmiento (1811-1888) trieb die Vernichtung der Ureinwohner voran, für die er, „eine unüberwindliche Abscheu“ verspürte, während er hingegen Buenos Aires liebte, weil es dort weder „Gauchos noch Schwarze, noch Arme“ gebe. Sarmiento prägte also die Formulierung, die bis heute viel zitiert wird: Man müsse die Barbarei von der Zivilisation aus bekämpfen. Was er vergessen hat zu sagen, ist, dass die argentinische Zivilisation selbst barbarisch ist, weil sie den Geschmack am fremden Blut niemals völlig verlieren wird.
Aus dem Spanischen von Léonce Lupette