Langer Abschied
Wann ist der Mensch tot? Warum wir uns daran erinnern sollten, dass Sterben in allen kulturellen Traditionen ein fließender Prozess ist
Wer den Tod deutet, gibt damit immer auch Antworten auf die Fragen: Was ist das Leben? Was ist die Essenz des menschlichen Lebens? Und was geht beim Eintritt des Todes verloren? Die Betrachtungsweise der modernen, naturwissenschaftlich geprägten Medizin, die sich an Messergebnissen orientiert, ist nur ein Mosaiksteinchen in der Interpretation von Leben und Tod. Religionen interessieren sich in der Regel weniger für monokausale Zusammenhänge, widerspruchsfreie Erkenntnisse und die Messbarkeit des Lebens, sondern fragen nach dem Sinn und Ziel des menschlichen Daseins. Die naturwissenschaftliche Kriteriologie ist daher aus spiritueller Perspektive für die Bestimmung des Todes und den daraus abgeleiteten Todeszeitpunkt nur von untergeordneter Bedeutung. Die meisten religiösen Traditionen haben zwar die konventionelle empirische Todesdefinition des Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstands aufgegriffen, diese jedoch in einen größeren Kontext eingebettet. Maßgeblich für die religiöse Todesbestimmung ist die jeweilige Auffassung vom Wesen des Menschen.
In der hinduistischen Überlieferung wird zwischen einem grobstofflichen Körper, einem feinstofflichen Seelen-Körper und dem rein geistigen Wesenskern des Menschen unterschieden. Wenn sich der feine Körper, der auch als Träger des geistigen Kerns fungiert, vom groben Körper löst, tritt der Tod ein. Das Sterben wird als langsamer Prozess der Loslösung beschrieben.
In den klassischen buddhistischen Schriften ist der Tod dann vollständig eingetreten, wenn drei lebenstragende Funktionen verschwunden sind: Lebenskraft, Körperwärme und Bewusstsein. Dieser Vorgang kann viele Stunden dauern.
Judentum, Christentum und Islam beziehen sich hinsichtlich der rechtlichen Bestimmung des Todes auf empirische Aspekte. Am wichtigsten ist dabei der Stillstand von Atem und Herzschlag, es können jedoch noch eine Reihe anderer Todesmerkmale hinzukommen, etwa in der islamischen Tradition die Starre des Blicks oder das Einsinken der Schläfen. Die tiefere Dimension des Todes eröffnet sich jedoch in der Vorstellung, dass der Tod eintritt, wenn sich die Seele vom Körper trennt. Der Tod ist kein klar definierter Zeitpunkt, sondern ein Vorgang, in dem die Seele allmählich den Körper verlässt. Gemeinsam ist diesen Religionen auch, dass die Wechselbeziehung zwischen Seele und Körper eine wichtige Rolle spielt. Die menschliche Einheit von Körper und Seele über den Tod hinaus bildet einen wesentlichen Bestandteil der jüdisch-christlich-islamischen Traditionen. Die Vorstellung von einer unsterblichen Seele findet sich neben dem Bekenntnis zur leiblichen Auferstehung des Menschen. Die Schwierigkeit, diese beiden Denkmodelle aufeinander zu beziehen, hat immer wieder zu theologischen Auseinandersetzungen geführt.
Der Übergang zwischen Sterben und Tod ist, anders als in den modernen medizinischen Todesdefinitionen, in den meisten religiösen Traditionen fließend. Niemand wird leugnen können, dass prinzipiell alle Bestimmungen eines Todeszeitpunkts – medizinische eingeschlossen – weithin willkürliche Festlegungen sind, die im Rahmen eines länger dauernden Sterbeprozesses stehen. Das umstrittene Hirntod-Konzept zeigt besonders anschaulich, welche Schwierigkeiten mit der Bestimmung von Leben, Sterben und Tod verbunden sind. Der Sterbeprozess ist mit der Feststellung des Hirntods zwar irreversibel, der Zeitpunkt des Todes bleibt dennoch Definitionssache. Es ist der Abschluss der geregelten medizinischen Hirntod-Diagnostik, der als offizieller Todeszeitpunkt gilt. Das ist dann die Todeszeit, die in der Sterbeurkunde eingetragen wird.
In den Diskussionen um die Hirntod-Definition und der dadurch legalisierten Organentnahme stehen aus religiöser Perspektive Erwägungen im Vordergrund, die auf einem bestimmten Menschenbild und der damit verbundenen Deutung von Leben und Tod basieren. Die Schlüsselfrage ist, ob der Gehirntod tatsächlich das irreversible Erlöschen des Bewusstseins bedeutet. Ist das Bewusstsein mit dem Gehirn identisch und unmittelbar nach dem Ausfall des Gehirns verschwunden? Was geschieht beim Sterben mit dem Bewusstsein und was versteht man eigentlich darunter? In welchem Verhältnis stehen Bewusstsein, Geist, Seele eines Menschen zum Gehirn? Wenn der Mensch nicht nur aus materiellen Bestandteilen besteht, was passiert mit den nichtmateriellen, seelisch-geistigen Komponenten im Sterbeprozess? Gehen auch diese Teile des Menschen ganz zugrunde – und wenn ja, wann? Werden sie neu erschaffen oder trennen sie sich vom Körper – und falls ja, wann? Überdauern sie den Tod? Könnten sich Eingriffe in den Sterbeprozess nachteilig oder belastend für den betroffenen Menschen auswirken? Auch wenn sich ein Mensch in einem unaufhaltsamen Sterbeprozess befindet, gibt es keine Gewissheit darüber, inwieweit die körperlich-seelisch-geistige Einheit bereits aufgelöst ist. Wissen wir, was beim Sterben mit den seelisch-geistigen Anteilen des Menschen passiert?
Aus der Sicht der religiösen Traditionen hängt die Einstellung zu Hirntod-Definition und Organentnahme von unterschiedlichen übergeordneten Standpunkten ab. Entscheidungskriterium einer Ablehnung kann etwa der Respekt vor der Integrität eines sterbenden beziehungsweise toten Menschen sein oder die Auffassung, dass eine derartige Intervention in den Sterbeprozess großen spirituellen Schaden verursachen könnte, solange sich Bewusstsein/Seele/Geist nicht vom Körper getrennt haben. Im Wesentlichen basiert die Kritik an der Hirntod-Definition auf zwei Pfeilern. Das ist einerseits quer durch die religiösen Traditionen eine Sicht des Menschen, die sich gegen seine Reduktion auf das Gehirn wendet. Kritische Einwände betonen häufig die Einheit des sterbenden Menschen. Und zweitens gilt als eigentlicher Tod des Menschen in den großen Religionen der Gegenwart und darüber hinaus in den meisten ethnischen Religionen und genauso in den verschiedenen Ausprägungen moderner Spiritualität die Trennung der seelisch-geistigen Dimension vom Körper. Der kleinste gemeinsame Nenner unterschiedlicher Seelenkonzeptionen quer durch die Kulturen kann darin gefunden werden, die Seele als das zu beschreiben, was den Menschen beim Ableben verlässt. Materie und Geist, Körper und Seele können allerdings auch als zwei aufeinander bezogene Seiten derselben Medaille, als Ausdrucksformen derselben Wirklichkeit gedeutet werden. So betrachtet erscheinen auch die Bemühungen der jüdisch-christlich-islamischen Traditionen, an einer leib-seelischen Einheit des Menschen festzuhalten, in einem neuen Licht. Das Modell der unsterblichen Seele, die in einem unversöhnlichen Gegensatz zur Materie steht, erhält mit der Metapher der leiblichen Auferstehung des Menschen nach dem Tod ein komplementäres Pendant.
Ausschlaggebend für eine befürwortende Haltung zur Organentnahme ist oft die Absicht, das Leben anderer Menschen zu retten. Ein starker Impuls in diese Richtung geht von modernen jüdischen Rabbinern aus. Die Triebfeder hierfür ist der große Stellenwert, den das irdische Leben seit jeher im Judentum besitzt. Hauptmotiv der christlichen Befürwortung der Organspende ist ebenfalls die Praxis der Nächstenliebe. Als lobenswerte wohltätige Hilfsleistung wird die Organspende auch von vielen islamischen Autoritäten bewertet und aus hinduistischer Sicht kann sie sich positiv auf die künftige Existenz des Spenders/der Spenderin auswirken. Aus buddhistischer Perspektive wiederum ist es die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, die zu einer affirmativen Haltung gegenüber der Organspende führen kann. Die Lebensweitergabe gilt als eine ethisch hochstehende Handlung. Betont wird aber, dass dieses Opfer freiwillig und bewusst erbracht werden müsse, um ethisch relevant zu sein. Das schließt auch ein, dass sich Spender und Empfänger kennen.
Die kontroversen Positionen der großen religiösen Traditionen zu Hirntod-Definition und Organentnahme sind Ausdruck des Ringens um den Menschen, um die Solidarität mit den Kranken einerseits und die schützende Unterstützung der Sterbenden andererseits. Alle religiös-spirituellen Traditionen gehen davon aus, dass der Mensch mehr ist als sein Körper und sein Gehirn. Die Unsicherheit darüber, was beim Sterben mit dem immateriellen Kern des Menschen geschieht und in welchem Verhältnis dieser zum Körper steht, gebietet Vorsicht bei allen Eingriffen in den Sterbeprozess. Das muss nicht zwangsläufig zur prinzipiellen Ablehnung der Organspende führen, wohl aber zu einer kritischen Nachdenklichkeit. Daraus kann sowohl eine bewusste Bereitschaft zu Opfer und Hingabe erwachsen als auch eine radikale Zurückweisung der Praxis der Organtransplantation, weil sich das Geschehen an der Grenze des Lebens der Messbarkeit entzieht.
Die verschiedenen religiösen Überlieferungen bilden einen Teilbereich ihrer Kultur und haben die zentrale Funktion, den Tod ins Leben zu integrieren und den Menschen auf das Sterben vorzubereiten. Sterbebegleitung, Toten- und Trauerrituale unterstützen die Sterbenden, die Toten und ihre Angehörigen. In der modernen westlichen Kultur wurde das Sterben in den letzten 150 Jahren professionalisiert, medikalisiert und institutionalisiert. Etwa 40 Prozent der finanziellen Aufwendungen der Krankenkassen fallen im letzten Lebensjahr an. Das Sterben verschwand allmählich aus dem öffentlichen Raum und dem Leben des modernen Menschen, verlagerte sich zunehmend in Krankenhäuser und Pflegeheime und wurde selbst dort noch verschämt in die Hinterkammern abgeschoben. Die Totensorge wurde weitgehend an Bestattungsunternehmen delegiert und die öffentlichen Trauervollzüge haben sich – abgesehen von der medialen Anteilnahme an großen Katastrophen und dem Tod prominenter Menschen – weitgehend auf rudimentäre Höflichkeitsformen reduziert. An die Stelle der gemeinschaftlich praktizierten Sterbe-, Toten- und Trauerriten ist eine individualisierte und private Trauertherapie getreten.
Bereits vor einigen Jahrzehnten hat jedoch ein deutlicher Gegentrend zur Todesverdrängung eingesetzt. Das Phänomen der sogenannten Nahtoderfahrungen ist auf großes öffentliches Interesse gestoßen. Der Tod als persönliches Anliegen wird immer häufiger zum Thema von Büchern, Zeitungen und Fernsehberichten. Im Internet finden sich virtuelle Friedhöfe und Gedenkseiten, darüber hinaus ist das Aufblühen einer neuen Ritualkultur zu beobachten. Insbesondere den Hospizbewegungen ist es gelungen, in westlichen Gesellschaften sowohl den Trend zur Tabuisierung des Todes als auch die Vereinnahmung des Sterbens durch die moderne medizintechnische Kontrolle mit einer neuen Sterbekultur abzulösen. Auffällig ist, dass Frauen in den verschiedenen Initiativen der modernen Sterbebegleitung dominieren. Vor dem Hintergrund, dass Frauen in den meisten Kulturen für Totenfürsorge und Trauer zuständig waren beziehungsweise sind, ist das jedoch nicht verwunderlich. Zu beobachten ist derzeit allerdings auch, dass die moderne Palliativmedizin, die in gewisser Hinsicht durchaus als Errungenschaft gelten kann, sich in der Manier alter Geschlechtsmuster von Neuem des Sterbens bemächtigt. Sie bemächtigt sich zusehends des Raums mit Symptom- und Schmerzbehandlung, terminaler Sedierung und ärztlich assistiertem Suizid. Männlich dominierte Palliativmedizin mit dem Fokus auf Sterbekontrolle und weiblich geprägte Hospizbewegung, die in Achtung vor dem Geschehen des Übergangs den Sterbenden dient, bilden einen schwelenden Konfliktherd.
Der Blick auf verschiedene Kulturen und religiöse Traditionen trägt dazu bei, das Sterben von Menschen aus dem engen medizinischen Kontext herauszulösen. Sterben ist genauso wenig eine Krankheit wie Gebären, daher kann der Medizin auch nur – wenn überhaupt nötig – eine marginale Rolle zukommen, der tragende Boden ist von anderer Art. Ein großer Teil der Menschen, die mit dem Tod konfrontiert sind, stellt Fragen nach dem Sinn, dem Woher und dem Wohin menschlichen Lebens. Religiöse Haltungen, bewusstes Abschiednehmen, rituelle und auch individualisierte Formen der Sterbe- und Totenbegleitung bilden ein existenzielles Fundament für die Begegnung mit dem Tod. Die ähnlichen und voneinander abweichenden religiös-kulturellen Deutungen des Todes müssen nicht nur aus weiter Distanz als fremde Anschauungen betrachtet werden. Als menschliche spirituelle Grundhaltungen können sie sowohl in dem, was sie verbindet, als auch in dem, was sie unterscheidet, zur Auseinandersetzung mit dem Tod anregen, zur Ausdifferenzierung der eigenen Einstellungen beitragen und sie bereichern.