Vom Sterben

Im Wandel der Zeiten

Was unsere Kulturgeschichte über das Sterben erzählt

Begreift man Sterben als einen rein organischen, körpergebundenen Prozess, dann begleitet uns das Sterben seit Anbeginn des irdischen Lebens. Erst in jüngerer Geschichte jedoch existiert das Sterben im Sinne eines Bewusstseins für den nahenden Tod. Die meisten Tiere verstehen zwar, was der Tod bedeutet. Es ist hingegen eine dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit, den Tod zu antizipieren. Wie wir das Sterben als bewusstes Antizipieren des nahenden Todes erlebten und definierten, kann geschichtlich in vier Phasen unterteilt werden. Jede war stark von den wirtschaftlichen und materiellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit beeinflusst.

Vor anderthalb bis zwei Millionen Jahren enstanden von Afrika ausgehend Jäger- und Sammlerkulturen, die dann vor etwa 12.000 Jahren in sesshafte jungsteinzeitliche Bauerngesellschaften übergingen. Diese frühen Jäger- und Sammler betrachteten das Sterben nicht als einen physischen Vorgang vor dem Tod. Vielmehr begann das Sterben mit dem Tod und endete vor einem überirdischen Gericht, das darüber befand, ob der Verstorbene würdig war, in die Reihe der Ahnen überzugehen, oder nicht. Beim Sterben stand nicht der dahinscheidende Körper im Blickpunkt, sondern die endende irdische Identität. Der Zeit unmittelbar vor dem Tod wurde wenig Bedeutung zugemessen, denn die Menschen starben spätestens in ihren Zwanzigern und oft plötzlich auf der Jagd oder durch Unfälle. Wer länger lebte, wurde krank oder behindert. Weil kleine nomadische Gruppen es sich nicht leisten konnten, Kranke auf ihren Wanderungen mit sich zu tragen, wurden kranke oder „alte“ Menschen oft entweder ausgesetzt oder rituell abgeschlachtet.

Nach der letzten großen Eiszeit vor ungefähr 12.000 Jahren begannen Kulturen in Amerika, im Mittleren Osten, in Europa, Asien und Afrika unabhängig voneinander sesshaft zu werden, Felder zu bestellen und Vieh zu domestizieren. Obgleich das Leben in bäuerlichen Gesellschaften weniger hart und entbehrlich war und die Menschen länger lebten, barg es neue Gefahren. Man wohnte eng mit Tieren zusammen, war umgeben von eigenen Ausscheidungen und leicht auffindbar für Feinde. Dies führte zu einer höheren Ansteckungsrate mit Krankheiten  und zu Krieg. Nichtsdestotrotz erfuhren Menschen in jenen Gesellschaften erstmals ein zeitlich längeres Sterben. Auf dem Sterbebett nahmen sie, umgeben von Familie und Freunden, Abschied vom Leben und konnten sich zum ersten Mal in der Geschichte auf den Tod vorbereiten. Während der Todesbegriff jener Zeit die Abenteuer und Erfahrungen, die beim Übergang zur überirdischen Welt durchlebt wurden, umschrieb, wurde unter dem Wort „Sterben“ nun die Zeit vor dem physischen Tod verstanden.

Etwa zur gleichen Zeit begannen sich Städte zu entwickeln. Sie beherbergten Vertreter spezialisierter Berufsgruppen wie Priester, Mediziner und Anwälte, die in der Situation des Todes und Sterbens ihre Mitmenschen professionell zu unterstützen wussten. Schon vor 10.000 Jahren entstanden die ersten auf Tod und Sterben spezialisierten Dienstleistungsunternehmen. Ständige Bewegung und Innovation prägten jene urbane Zentren, aus denen Mitte des 18. Jahrhunderts in Amerika, Europa und Australien eine neue Epoche der Weltgeschichte hervorging, die Moderne.

Das Zeitalter der Moderne war geprägt von Fortschritten in Medizin und im öffentlichen Gesundheitswesen. Auch mussten immer weniger Menschen physisch harte Arbeit verrichten. Das führte in wohlhabenden Ländern während der 1970er- und 1980er-Jahre dazu, dass  die Lebenserwartung rasant anstieg. Krebs, Herzerkrankungen und Organversagen wie auch Gebrechlichkeit dominieren heutzutage unsere gegenwärtigen Erfahrungen des Sterbens. In weniger wohlhabenden Ländern sterben Menschen weiterhin aufgrund von Infektionskrankheiten wie Aids, Malaria oder Tuberkulose. Ironischerweise führt das Sterben in armen wie in reichen Ländern zu ähnlichen Problemen und Herausforderungen.

Zum einen ist im 20. Jahrhundert weltweit eine zunehmende Institutionalisierung des Sterbens zu beob­achten. Während weniger Menschen zu Hause sterben, verbringen die meisten ihre letzten Augenblicke in Krankenhäusern, Altersheimen und Hospizen. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist nicht: Welches ist der „beste“ Ort zum Sterben? Angesichts medizinischer Komplexität, sozialer Isolation Sterbender oder der Belastung isolierter Kernfamilien mag es nicht immer angemessen sein, seinen Lebensabend zu Hause zu verbringen. Vielmehr sollten wir fragen: Welchen Rollenmodellen folgen unsere Schlüsselinstitutionen der Fürsorge? Gleicht beispielsweise das Wohnen in Altersheimen oder Hospizen eher einem Aufenthalt im Gefängnis? Oder sind diese Heime ähnlich gestaltet wie Vereine, Büchereien und Hotels? Wollen wir an Orten sterben, in denen Konflikte verbreitet sind, Rivalitäten ausgetragen werden und negative Führungspraktiken vorherrschen? Nach wie vor sind viele jener Institutionen „totale“ Institutionen, das heißt von der übrigen Gesellschaft abgeschnittene, stark durchstrukturierte Gemeinschaften. Die entscheidende Frage ist: Wie „durchlässig“ sind unsere Pflegeinstitutionen für Gemeinschaft, Kameradschaft und unsere Netzwerke?

Des Weiteren müssen wir in den wohlhabenden Ländern dieser Welt noch lernen, die Grenzen medizinischer Betreuung und Pflege anzuerkennen. Wir nehmen an, dass es immer ein weiteres Medikament oder einen anderen Spezialisten geben wird, der uns helfen kann. Der weitverbreitete Wunsch nach medizinischer Rettung lässt das individuelle Bewusstsein für den nahenden Tod verblassen. Wir wollen das Sterben nicht akzeptieren. Am Ende eines Lebens führt dies dazu, dass wir stärker auf professionelle Kontrolle angewiesen sind, zu aggressiveren medizinischen Pflegeszenarien greifen, die den Tod als entwürdigend oder als Fehlschlag erscheinen lassen, und zu langen Aufenthalten in Krankenhäusern oder Altersheimen. Dabei könnten wir uns in einer Gemeinschaft, sei dies auf der Arbeit, in Glaubensgemeinschaften oder in der Nachbarschaft, besser und nachhaltiger um uns sorgen. Wenn wir es schaffen, uns um unsere Gesundheit und Sicherheit zu kümmern (wie wir es tun, wenn wir unseren Alkoholkonsum kontrollieren oder bei den Weight Watchers mitmachen), können wir uns gegenseitig auch am Ende eines Lebens unterstützen.

Während uns früher Religion und Gemeinden in unserer Trauer anleiteten und vereinten, wenn wir von Sterbenden Abschied nahmen, verlieren zuletzt auch der Tod und das Sterben ihre Verankerung in diesen beiden traditionellen Instanzen. Einst gab uns die Religion Orientierungshilfen für die Zukunft, erinnerte uns an unsere Verpflichtung gegenüber dem Göttlichen und verbreitete die Idee von Trans­zendenz und Erlösung. Die Gemeinden spiegelten diese Anschauungen wider, indem sie komplementäre Werte wie Solidarität und Gemeingut priesen und mit Ritualen bekräftigten. Heutzutage haben viele Gemeinden keine gemeinsamen Rituale mehr, denn die Bevölkerungen einer Nation oder gar einer Stadt sind pluralistisch, heterogen, ständig im Wandel und verstärkt säkular oder multikulturell.

Die Charakteristika unserer modernen Zeit entziehen den Bedingungen unseres Lebensabends seine Qualität, indem sie das Sterben unsichtbar machen – wir verstecken es in Institutionen, wir tarnen es als chronische Krankheit und rufen nach medizinischer Rettung bis zum letzten Atemzug. Dadurch verzichten wir auf die Vorzüge, die alle vorherigen Generationen genossen, als sie vom Leben Abschied nahmen: Anerkennung und Respekt, Rituale, das Geschenk, dass Angehörige und Freunde anwesend sind. Am Ende eines Lebens blicken wir auf fehlgeleitete Ressourcen, Verleugnung, Einsamkeit und Angst. Aus der Geschichte des Sterbens wissen wir, dass wenn wir das Sterben akzeptieren, der Tod weder schneller herbeigeholt noch weiter hinausgeschoben wird, aber dass er uns ein allerletztes Mal zusammenbringt. Die­s ist eine Lektion, die wir wieder lernen müssen.

Aus dem Englischen von Michèle Mertens