Ich war mal kurz weg
Was Menschen aus unterschiedlichen Kulturen von ihren Nahtoderlebnissen berichten
Menschen, die durch lebensbedrohliche Situationen gegangen, die dem Tod nahe gekommen oder gestorben sind und dann wiederbelebt wurden, schildern manchmal außergewöhnliche Erlebnisse, in denen die Grenzen von Raum, Zeit und Wahrnehmung verschwimmen. Diese subjektiv intensiven Erfahrungen treten auf, wenn die normalen Körperfunktionen bereits stark eingeschränkt oder schon nicht mehr vorhanden sind. Der amerikanische Psychiater und Philosoph Raymond Moody und die schweizerisch- amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross machten diese Erlebnisse in den 1970er-Jahren unter dem Namen „Nahtoderfahrung“ bekannt.
Berichte von beinahe Gestorbenen sind seit der Antike schriftlich oder mündlich aus nahezu allen Kulturen überliefert. Die frühesten Beispiele stammen von Völkern wie den Sumerern oder den Griechen der Antike. In jüngerer Zeit ist die Zahl von Berichten über Nahtoderlebnisse stark angestiegen. Die meisten dieser Beschreibungen stammen aus angloeuropäischen Kulturen. Nach Schätzungen haben zwischen vier und neun Prozent der Menschen aus diesem Kulturkreis bereits ein Nahtoderlebnis ge-habt. Es gibt jedoch auch einige Berichte aus nicht westlichen Kulturen, unter anderem aus Hawaii, Thailand, Indien, Südamerika und Israel. Solche Fälle sind insbesondere wertvoll, um die Frage zu klären, ob es kulturelle Unterschiede im Erleben eines todesähnlichen Zustandes gibt oder ob diese Phänomene universell sind.
Nahtoderlebnisse in westlichen Kulturen weisen erstaunliche Übereinstimmungen auf. Immer scheinen kognitive, emotionale und transzendentale Elemente zusammenzuspielen. Beinahe Gestorbene berichten übereinstimmend, dass sie außergewöhnliche Gehirnfunktionen erlebten: eine veränderte Zeitwahrnehmung, ein gesteigertes Bewusstsein, das Beobachten des eigenen Körpers von außerhalb, das schnelle Abrufen von Erinnerungen in einer Art Lebensrückschau sowie das Bewerten eigener Handlungen zu Lebzeiten. Zu den emotionalen Elementen gehören intensive Glücksgefühle, Zufriedenheit, Freude und bedingungslose Liebe. Transzendentale Elemente sind das Sich-hingezogen-Fühlen zu einem ungewöhnlich hellen Licht, das Sehen von anderen Verstorbenen, das Kommunizieren mit einem Lichtwesen, die Reise durch einen Tunnel und das Wahrnehmen einer kosmischen Einheit.
Vergleicht man jedoch westliche mit nicht westlichen Nahtoderlebnissen aus jüngerer Zeit, dann zeigt sich, dass einige der als charakteristisch angenommenen Elemente von Nahtodereignissen nicht überall erlebt oder dass sie zumindest nicht auf die gleiche Weise interpretiert werden. Übereinstimmend erzählen zwar auch Überlebende aus nicht westlichen Kulturen, im todesähnlichen Zustand übernatürliche Wesen gesehen zu haben und in anderweltliche Bereiche gelangt zu sein. Doch kommen beispielsweise in Indien, Tibet und Guam Reisen durch einen Tunnel nicht vor. Das Heraustreten aus dem eigenen Körper fehlt in Nahtodbeschreibungen aus Afrika und bei den australischen Ureinwohnern. Eine Lebensrückschau gibt es nicht in Berichten aus afrikanischen Kulturen, von den neuseeländischen Maori, aus Guam und Hawaii. Außerdem werden manche typische Elemente von Nahtoderfahrungen in nicht westlichen Kulturen zwar erlebt, aber in etwas anderer Ausprägung. So beschreibt ein Fall aus China statt einer Reise durch einen Tunnel eine Reise durch einen leeren Raum.
Menschen verwenden kulturelle und religiöse Wertvorstellungen, Normen und Traditionen, um Erlebtes zu interpretieren. Das gilt auch für das, was sie im todesähnlichen Zustand wahrnehmen und spüren und somit „erleben“. Der folgende Fall kann das illustrieren: In Thailand verlangt der Brauch „tham boon“ unter anderem von den Menschen, den Mönchen beim Besuch von Tempeln Speisen und Getränke mitzubringen. Ein Thailänder begegnete im Sterben einem übernatürlichen Wesen und bekam Durst, doch die Lichtgestalt verweigerte ihm Wasser. In einer westlichen Nahtoderfahrung wäre dieses Erlebnis sehr wahrscheinlich als Folge persönlichen Versagens, im Leben nicht großzügig genug gewesen zu sein, interpretiert worden, doch der erfolgreich wiederbelebte Thailänder sieht in der gesellschaftlichen Missachtung des Brauchs die Ursache für sein Nahtoderlebnis und mahnt seine Mitmenschen, den Mönchen mehr kalte Getränke zu schenken.
Aus dem Englischen von Karola Klatt