Ein Buch für die Töchter
Lindita Arapis Roman über drei Frauenschicksale in Albanien ist der eindringliche Appell, sich der eigenen Geschichte zu stellen
Das aberwitzige Bunkersystem des albanischen Diktators Enver Hodscha. Oder die bunten Häuser Tiranas, die der Künstler Edi Rama nach seiner Wahl zum Bürgermeister im Jahr 2000 anmalen ließ, um das soziale Klima in der Hauptstadt zu verbessern. Solche kuriosen Anekdoten fallen einem ein, wenn es um den kleinen Mittelmeerstaat Albanien geht, der 1990 die sozialistische Diktatur abschüttelte. Die albanische Schriftstellerin Lindita Arapi, die heute in Bonn lebt und bei der Deutschen Welle arbeitet, sieht etwas anderes: „leid / ist die asymmetrie / in den regelmäßigen gesichtern / schweigender albaner / die mir / ohne dass ich sie kenne / schon von weitem auffallen / und ich begrüße sie / in einer der symmetrischen / städte europas.“
Mit ihrem Roman „Schlüsselmädchen“, den Joachim Röhm mit feinem Gespür für Zeitschichten und changierende Stimmungen ins Deutsche übersetzt hat, zeichnet sie diese Asymmetrien in den albanischen Gesichtern nach und fährt ihrem Land unter die Haut. 2011 wurde sie dafür in Albanien „Schriftstellerin des Jahres“. Man versteht das sofort: Arapi hat ein fesselndes, literarisch kluges Buch geschrieben und sie hat eine Vision für eine freiere albanische Gesellschaft formuliert.
Ihr Roman erzählt die Geschichte von Lodja Lemani. Das Mädchen wächst in den 1970er- und 80er-Jahren in der sozialistischen „Mustergemeinde“ D. auf, wo „die Leute sich besonders eifrig bespitzelten“. D. soll eine „Stadt ohne Geheimnisse“ sein. Tatsächlich ist jede Geste, jedes Wort und jeder Schritt codiert. Zumindest für die Familie Lemani, deren in Zitronenduft gehülltes Häuschen nur kurz als Idyll erscheint. Das Unheimliche bricht mit Lodjas Mutter in die Erzählung ein.
Drita ist eine schöne, aber gehetzte Frau, eine Frau, die nie lacht und die etwas zu verbergen hat. Sie gehört zu den „Geduldeten“ und verdammt damit auch Mann und Tochter zum Leben auf dem Schleudersitz. Viel mehr teilt Arapi uns vorerst nicht mit. Sie bleibt im ersten Teil des Romans Lodjas kindlicher Perspektive treu, die die Bosheit der Nachbarinnen und die Angst ihrer Eltern weder hinterfragt noch begreift – eine Metapher für die paranoide, ebenso irrationale wie machtvolle Ideologie des Gerüchts in der Diktatur.
Man meint, diese Geschichte von Opfern und Tätern im Sozialismus zu kennen. Aber Arapi erzählt sie anders, kraftvoll und als Teil eines komplexeren Zusammenhangs. Die Geister der albanischen Vergangenheit, die sie ruft, sind nicht nur die des Sozialismus.
Eine Stimme aus dem Totenreich eröffnet den Roman. Sie gehört möglicherweise Lodjas verschollener Großmutter Fatmire, die – auch das nur eine der Vermutungen, die für Spannung sorgen – von ihren männlichen Verwandten umgebracht wurde. Sie klagt: „Als Opfer von dieser Welt gehen zu müssen, ist das schlimmste Unglück! Sie nehmen sich heraus, deinen Schicksalsfaden einfach durchzuschneiden, aber du nimmst das Recht mit dir fort.“ Um dieses Recht wieder herzustellen und die Lebenden aus ihren beklemmenden Verstrickungen ins Unrecht zu befreien, müssen die Geschichten der Opfer erzählt werden. Im Roman ist Lodja das „Schlüsselmädchen“, das die Tür zur Vergangenheit und zur Zukunft zu öffnen.
Dahin ist es ein langer Weg. Lodja lebt inzwischen als Studentin in der belgischen Stadt G. Die Diktatur ist vorbei. Aber immer noch sucht sie das Gespenst der Vergangenheit heim. Unter dem Gewicht der ungeklärten Familiengeheimnisse bricht sie eines Nachts zusammen. Jetzt wagt sie den Befreiungsschlag und reist in die Heimat, um der Geschichte ihrer Mutter und ihrer Großmutter auf die Spur zu kommen.
Zug um Zug setzt Arapi das komplexe Bild einer versehrten Gesellschaft zusammen, deren Sprachverlust und Atemnot nicht nur durch die sozialistischen Verbrechen verursacht wurden, sondern auch durch ein älteres, unauffälligeres Unrecht: die sozial akzeptierte und gewalttätige Verachtung von Frauen. Die widerständige Fatmire ist dieser Verachtung zum Opfer gefallen und auch Lodja lernte sie schon als Kind auf der Straße kennen: „Gib mir dein Vögelchen“, bedrängten die Männer sie, „ich will deinen kleinen Vogel!“ Für Schönheit schämt man sich, bläute die Mutter ihr ein.
Freude darf eine Frau nicht empfinden, so gibt eine Generation es an die nächste weiter. Von diesen archaischen Traditionen erzählt Arapi mit dem analytischen Blick einer modernen Frau. Wut über die Selbstverachtung der Mütter treibt den Roman an. „Schlüsselmädchen“ ist aber auch der Versuch, der Mutter zu verzeihen. Die Autorin klagt nicht an, sondern löst auf: Sie erinnert sich, um frei zu werden.
Arapi hat die Geschichte von Lodja, Drita und Fatmire ihren Töchtern gewidmet. Sie sind gewissermaßen Dritas Enkelinnen und von deren Geschichte geprägt, ohne es zu wissen. Ähnliches gilt für Europa, dessen Kultur längst durch die seiner Immigranten bestimmt wird. Arapi hat mit „Schlüsselmädchen“ nicht nur einen albanischen Roman geschrieben, sondern dem Mosaik des europäischen Gedächtnisses einen intensiv leuchtenden Stein hinzugefügt.
Schlüsselmädchen. Von Lindita Arapi. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. Dittrich Verlag, Berlin, 2012.