Durch die Wüste
Ralph A. Austen zeigt, wie in der Geschichte der Sahara die ungleichen Beziehungen zwischen Ost und West sichtbar werden
Ist der Regenwald die Lunge der Welt, so kann man die Sahara den „offenen Bauch der Welt“ nennen. Beim größten Wüstengebiet der Erde handelt es sich nicht, wie viele vermuten, um einen unendlichen Ozean aus Sand, wo das große Nichts zu Hause ist, sondern um eine dynamische und pulsierende Region, die viele Völker, Sprachen und Religionen beherbergt. Die Sahara ist auch keine Barriere, die zwei Welten voneinander trennt – den Mittelmeerraum und das tropische Afrika –, sondern eine eigene Welt, wo sich Afrika und Europa seit der Zeit der Römer und Karthager bis heute begegnen, befruchten und bekriegen.
In seinem Roman „Blutender Stein” erzählt der libysche Schriftsteller Ibrahim El-Koni die Geschichte des jungen Nomaden Assuf, der in völliger Abgeschiedenheit zwischen Sand und Felsen mit seiner Herde lebt und uralte Felszeichnungen bewacht. Sein an den Gesetzen der Natur und alten mythischen Traditionen orientiertes Leben ändert sich jedoch plötzlich, als ein italienischer Archäologe und ein amerikanischer Jäger in seine Welt eindringen.
Die Schilderung der Geschichte und Veränderung der Lebenswelt und Lebensweise, die El-Konis Roman auf literarischer Ebene schafft, vollbringt das neue Buch von Ralph A. Austen, „Sahara. Tausend Jahre Austausch von Ideen und Waren“, auf kulturgeschichtlicher Ebene. Austen, emeritierter Professor für Afrikanische Geschichte an der Universität von Chicago, widerspricht allerdings der These, die Sahara habe sich in der vorkolonialen Zeit im Dornröschenschlaf befunden und sei erst vom weißen Mann wachgeküsst worden. Er sieht die Region eher als Bühne des Austauschs und des Konflikts zwischen den unterschiedlichen Enklaven und Reichen in der und um die große Wüste. Durch detallierte Beschreibungen, Bilder und Karten nimmt der Autor den Leser mit auf eine virtuelle Reise vom maurischen Marokko über das Reich von Mansa Musa in Mali durch die libysche Wüste zum Sokoto-Kalifat im Sudan. Austen hinterfragt alte und präsentiert neue Forschungsergebnisse. Er räumt auch mit einer Reihe falscher Vorstellungen über die Geschichte Nordafrikas, die in den Köpfen vieler verankert sind – wie denen über die Profiteure des Sklavenhandels –, auf.
Austen verfolgt in diesem spannend geschriebenen Buch vier Themenstränge: die transsaharischen Karawanenwege und ihre Bedeutung für die afrikanische Wirtschaft, den Sklavenhandel, die Bedeutung des Islam und die ambivalente Rolle des Kolonialismus bei der Entwicklung und Ausbeutung der Sahara.
Über tausend Jahre lang lebten Araber, Berber, Fulani, Hausa, Kanturi, Schiiten, Sunniten, Charidschiten, Sufis, Juden und viele andere Völker und Religionsgruppen Seite an Seite, oft friedlich, oft im Konflikt. Sie überquerten die große Wüste von Norden nach Süden, von Westen nach Osten und tauschten Waren aus. Es ging nicht immer um Gold- und Sklavenhandel, sondern auch um die Sicherung von Wasserbrunnen und Salzminen, den Verkauf von Ziegenleder und Datteln und um Pilgerfahrten von der Westsahara nach Mekka.
Austen ist bemüht, jahrhundertealte Vorurteile über die Sahara und ihre Bewohner abzubauen sowie die Gegenüberstellung von Europäern als Zivilisierten und Afrikanern als Barbaren anzufechten. Kritisiert wird beispielsweise ein Bericht aus dem ersten Jahrhundert, in dem der römische Geograf Plinius die Wüstenvölker als aggressive Räuber bezeichnet, die „der menschlichen Lebensweise entfremdet“ seien. Plinius wirft den Sahara-Bewohnern vor, die Wasserbrunnen mit Sand zuzuschütten, um den Reiseverkehr zu behindern. Dabei waren die Völker der Sahara nicht nur an friedlichen und sicheren Reiserouten interessiert, sondern davon geradezu abhängig. Bei den zugeschütteten Brunnen handelte es sich lediglich um die Folgen eines Sandsturmes. Das ist nur eins von vielen Missverständnissen, welche die Beziehungen zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers bis heute beherrschen.
Bei den Themen Sklaverei und Kolonialismus diskutiert Austen die ambivalente Rolle sowohl des Islam als auch des Westens ausführlich. Muslimische wie westliche Händler profitierten vom Gold- und Sklavenhandel ebenso wie sie großes Leid über Subsahara-Afrika brachten. Beide gründeten Söldnerarmeen aus Sklaven und brachten ihnen den Umgang mit Schusswaffen bei. Es waren aber auch muslimische Geistliche und christliche Missionare, die gemeinsam gegen den Sklavenhandel vorgingen, bis er Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich zurückging. Es waren auch arabische und später europäische Eroberer, die Bildung, Gesetzlichkeit und moderne Technik in die Sahara brachten und damit den innerafrikanischen Handel beflügelten.
Austen bietet eine erhellende Übersicht der unterschiedlichen muslimischen Strömungen, die das Leben in der Wüste in den letzten Jahrhunderten prägten: die sunnitischen Moraviden, die schiitischen Fatimiden und die abtrünnigen Chridschiten, die die offizielle Narrative des Mainstream-Islam anzweifelten. Vor allem der friedliche, mystisch orientierte Volksislam war für die Afrikaner identitätsstiftend und schaffte eine Art Einheit unter den ethnisch heterogenen Wüstenbewohnern vom Niltal bis zum Atlantik. Die Ideologie des Dschihad wurde zwar für einige Raubzüge missbraucht, konnte aber erst im antikolonialen Befreiungskampf als eine legitime Ideologie Massen von Gotteskriegern mobilisieren.
Sogar der sonst friedliche Sufi-Islam radikalisierte sich im Zuge des Kampfes gegen die westlichen Kolonialherren. Angeführt von Abdel-Qadir al-Jaziri nahmen Anhänger des Sufi-Qadiriyya-Ordens in Algerien den Kampf gegen die französische Besatzung seit 1830 auf. Dagegen verbündete sich der Tidschani-Orden mit den Franzosen gegen die Glaubensbrüder der Qadiriyya. Der Anführer des Sanussiyya- Ordens weigerte sich, am bewaffneten Kampf gegen die Eroberer teilzunehmen, und wanderte nach Mekka aus. Das hinderte seine Anhänger nicht daran, hundert Jahre später den Dschihad gegen die italienische Besatzungsmacht in Libyen zu erklären. Auch heute, in der postkolonialen Sahara, baut der politische Islam seine Vormachtstellung zunehmend aus und drängt die volkstümlichen mystischen Traditionen immer mehr in den Hintergrund.
Spätestens mit der Erfindung der Eisenbahn und des Flugzeuges verloren die transsaharischen Karawanenwege an Bedeutung. Nach Gold und Sklaven sind jetzt Erdöl und Technologien die Motoren der Weltwirtschaft. Heute blickt der Westen auf die Sahara eher mit Sorge im Hinblick auf die politischen Umstürze und den Aufstieg des Islamismus in Nordafrika. Nicht in gemeinsame Projekte für die Erzeugung von Wind- und Solarenergie wird investiert, sondern in die Bekämpfung der Gefahren durch Terrorismus und illegale Einwanderung. Die USA haben zuletzt ein Budget von 100 Millionen US-Dollar für die „Transsahara Counter Terrorism Initiative“ bereitgestellt, weil man vermutet, dass die Terrorgruppe Al-Qaida sich dort in den Bergen eingenistet hat. Heute werden junge Afrikaner nicht mehr durch die Wüste verschleppt, um als Sklaven in den Norden verfrachtet zu werden, sondern überqueren die Sahara „freiwillig“, um über den Maghreb ins Gelobte Land Europa als Migranten zu gelangen.
Auch wenn die Sahara als Kulturregion in Vergessenheit geraten ist, bleibt sie ein Spiegel für die Sünden und Versäumnisse des Westens und der islamisch-arabischen Welt. Sie bleibt eine offene, aber stolze Wunde mitten in einer Welt, welche die Stille und Abgeschiedenheit kaum mehr kennt. Sie bleibt beweglich und geduldig wie ein Kamel, das trotz Dürre und Hitze fortschreitet. In ihrem Bauch sind Millionen von Samen begraben, die sehnsüchtig auf den Regen warten.
Im 19. Jahrhundert unterhielt sich ein Marokkaner mit seinem französischen Kolonialherrn über den Unterschied zwischen Europäern und Nordafrikanern. Der Franzose sagte: „Du kommst nie pünktlich.“ Der Marokkaner entgegnete: „Ihr habt die Uhren, aber wir haben die Zeit!“
Sahara. Tausend Jahre Austausch von Ideen und Waren. Von Ralph A. Austen. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Wagenbach Verlag, Berlin, 2012.