Der größte Schmerz
Meinen eigenen Tod fürchte ich nicht, den meiner liebsten Menschen aber mehr als alles andere
Wenn ich an den Tod denke, habe ich Angst, aber nur, weil der Tod, an den ich dann denke, der Tod eines anderen Menschen ist. Oder vielmehr, weil es der Tod eines der wenigen Menschen ist, die ich mehr als mein eigenes Leben liebe. Das ist verständlich: Ich möchte jene, die mir am Herzen liegen, nicht verlieren, und da es keine schmerzfreie Art zu sterben gibt, widerstrebt es mir zutiefst, sie leiden zu sehen. Aber es ist auch höchst eigenartig, denn in den Momenten, in denen ich über meinen eigenen Tod nachdenke, habe ich kein bisschen Angst und würde notfalls vielleicht sogar behaupten, dass ich froh bin, dass es so kommt. Denn schließlich wäre die Alternative – für immer zu leben – unerträglich. Warum also überkommt mich die blanke Panik, wenn ich darüber nachdenke, dass die Menschen, die ich am meisten liebe, mich vielleicht nicht überleben?
Die Antwort liegt vielleicht darin, dass uns die Philosophie nicht weiterhilft, wenn es um Liebe geht. Die zwei besten Bemerkungen, die ich je über den Tod gelesen habe, scheinen mir noch immer schön und wahrhaftig, jedoch erst, wenn ich ihre Weisheit auf meine eigene Sterblichkeit anwende. Wie der Zufall es will, wurde die erste Bemerkung von Martin Heidegger vor nicht allzu langer Zeit unabhängig getestet, als Psychologen eine Gruppe von Probanden anwiesen, einen Teil des Tages auf dem örtlichen Friedhof zu verbringen, während die andere Gruppe diese Zeit an einem anderen Ort verbringen musste. Das Ergebnis war eindeutig: Diejenigen, die täglich zwischen Grabsteinen umherspazierten, waren mit der Zeit deutlich glücklicher, während die Kontrollgruppe keine Veränderung an den Tag legte.
Nur wenn ich den Tod als Seinsmöglichkeit übernehme, ihm nicht ausweiche, sondern mich ihm stelle, werde ich frei von der Angst vor dem Tod und der Nichtigkeit des Lebens – und nur dann werde ich frei sein, um ich zu werden, so Heidegger sinngemäß. Diese Behauptung leuchtet selbst bei flüchtiger Betrachtung unmittelbar ein, allerdings nur, wenn sie eine philosophische Aussage bleibt. Sobald es um den Tod eines geliebten Menschen geht, gerät sie ins Wanken. Ähnlich verhält es sich, wenn ich mir Bernard Berensons schöne Beobachtung in Erinnerung rufe: „Liegt nicht darin vielleicht des Lebens Vollendung, dass man im Nicht-Ich rückhaltlos aufgeht und kein Ich mehr zurückbleibt, das dem Tode verfällt?“ Bei diesen Worten denke ich immer an mein letztendliches Ableben – was eigenartig ist, denn wenn diese Aussagen für mich gelten, dann müssen sie natürlich auch für alle anderen Menschen gelten.
Diese Eigentümlichkeit spiegelt sich für mich in meinen Söhnen wider, die wie alle Kinder in große Aufregung geraten bei dem Gedanken, dass ich sterben werde, und ich bin nicht so töricht und behaupte, dass dem nicht so ist. Ja, sage ich: Ich werde irgendwann sterben, aber das akzeptiere ich nicht nur, sondern ich bin sogar ganz froh darüber. Ich habe nicht den leisesten Wunsch, sage ich, ewig zu leben – und mein Fortgang wird Platz machen, damit sich andere Leben entfalten können. Meine Söhne sind jedoch völlig außerstande, dies hinzunehmen, und es ist manchmal ziemlich frustrierend zu wissen, dass sie unnötige Ängste ausstehen.
Selbstverständlich verkneife ich es mir jedes Mal, das Thema zu vertiefen und ihnen zu berichten, dass eins meiner seltsamsten Wohlgefühle darin besteht, meinen Tod einzuüben, Ordnung um mich herum zu schaffen, wo normalerweise Chaos herrscht, all meine Rechnungen zu begleichen und meine Angelegenheiten ins Reine zu bringen. Und selbstverständlich würden sie – falls ich je mit ihnen über meine Todesübungen sprechen würde – die Behauptung von der Hand weisen, ich hätte beim Einüben keinerlei Wunsch zu sterben, es sei nichts Morbides oder Selbstmörderisches dabei. Ich übernehme den Tod als Seinsmöglichkeit, ich weiche ihm nicht aus, sondern stelle mich ihm, doch ich möchte in jenem Moment nicht sterben. Das Wohlgefühl besteht in dem Wissen, dass der Tod kommen wird, nur eben noch nicht.
Als Kind habe ich ich oft ein Spiel gespielt, bei dem ich auf dem Boden lag, bedeckt mit einem weißen Laken, und so tat, als sei ich tot. Das tun andere Kinder gewiss auch, doch ich praktizierte dies noch bis ins fortgeschrittene Teenager-Alter – und dies führte zu einer der erotischsten Erfahrungen, die ich je erlebt habe. Es war Nachmittag, das Haus war leer, meine Eltern waren bei der Arbeit und meine Schwestern mit Freunden unterwegs. Gewöhnlich spielte ich meine Todesübungs-Komödie in irgendeinem Schlafzimmer, doch an diesem Tag legte ich mich aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, im Wohnzimmer auf den Boden, zog mir das Laken über das Gesicht und verhielt mich reglos wie ein Toter; ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, nicht zu sein – und wie gewöhnlich wurde alles lebendiger und intensiver, die Zeit verlangsamte sich, bis ich in meiner hypothetischen Abwesenheit jeden Vogel im Garten singen hörte und jede Stimme und jeden Schritt, der vorüberging. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag, doch es muss eine ganze Weile gewesen sein. Ich war so vollständig in die Welt um mich herum versunken, dass es für mich völlig selbstverständlich war, als die hübscheste Freundin meiner Schwester, ein Mädchen namens Eileen, durch die Hintertür (die zu jener Zeit nie abgeschlossen war) ins Haus kam, durch die Zimmer spazierte und dann, als sie meinen scheinbaren Leichnam auf dem Wohnzimmerboden fand, neben mich unter das Laken kroch und sich genauso still wie ich hinlegte. Sie sagte keinen Ton, sie sah mich noch nicht einmal an.
Mehrere Minuten lagen wir regungslos da, mein Körper war sich des ihren außerordentlich bewusst, mein Verlangen nach ihr fast unerträglich. Ich spreche von einigen Minuten, denn so lang muss es gewesen sein, doch während wir unter jenem Laken lagen, gab es keine ‚Minuten‘, Uhren waren wunderbar unwichtig, und ich konnte mein Glück kaum fassen, als mir klar wurde, dass es zwei Arten von Verlangen gibt: den gewöhnlichen Drang, der einen zur Tat treibt, und jenen anderen, der mich damals erfüllte: einfach für den anderen da zu sein, wahrhaftig und vollständig und unersetzlich. Über ein Jahr hatte ich mit diesem Mädchen machen wollen, was jeder Teenager mit dem hübschesten Mädchen in der Nachbarschaft machen wollte; nun bestand mein einziges Verlangen darin, dass es sie gab.
Dieser Moment fand ein Ende, als Eileen genug von meinem Todesritual hatte und unter dem Laken hervorkroch. Es kam nie zu einer Wiederholung. Doch etwas geschah in jenen Minuten, und ich habe nie vergessen, dass ich verstand, dass wir durch unsere Sterblichkeit die Welt mit anderen teilen und dass die Sehnsucht mitunter kein anderes Objekt haben kann als die Sehnsucht an sich. In seinem Buch „Endliche und unendliche Spiele“ erklärt der Philosoph James P. Carse, dass es zwei Arten von Spielen gibt: jene, die man zu einem Zweck spielt (ein Kind aufziehen, ein Baseball-Spieler werden, Geld oder Ruhm erlangen); er nennt sie endliche Spiele und verweist darauf, dass endliche Spieler häufig wie Schauspieler auf der Bühne agieren, um andere zum Schweigen zu bringen und sich Geltung zu verschaffen. Es ist jedoch möglich, als Spieler die Welt für endlose Möglichkeiten und neue Formen des Spiels zu öffnen. Wer dies tut, ist Carse zufolge ein unendlicher Spieler und er schließt sein Buch mit der Bemerkung: „Es gibt nur ein unendliches Spiel.“
Es gibt nur ein unendliches Spiel – und der unendliche Spieler ist derjenige, der den Tod als Seinsmöglichkeit in sein Leben übernimmt, ihm nicht ausweicht, sondern ihn einübt und so ein in seiner Ganzheit verwirklichtes, vollständiges Ich wird, das paradoxerweise so rückhaltlos in dem Nicht-Ich aufgeht, dass es an sich nicht sterben kann. Zugleich ist es jedoch eine Erinnerung an die Menschlichkeit des Spielers, dass er oder sie den Gedanken an den Tod eines lieben Menschen nicht ertragen kann, denn die Liebe verlangt immer und mehr als alles andere nach der Fortexistenz des anderen. Als Kinder spielten wir „Tritt auf den Strich, brich der Mutter das Genick“; wir hüpften über Pflastersteine und gaben uns alle Mühe, nicht auf die Ritzen zu treten. Auch dies war eine Art Einüben, wenngleich es ein Einüben des Überlebens und nicht des Ablebens war. Wir können uns der Angst und der Nichtigkeit nicht entledigen, indem wir den Tod derjenigen, die wir lieben, einüben, wir können nur auf ihre Fortexistenz hoffen. Allerdings kann jeder von uns, egal wen wir lieben und von wem wir geliebt werden, so rückhaltlos im Nicht-Ich aufgehen, dass wir den Tod des Ich ausschließen, auch wenn wir dabei zur Seite rücken und Platz machen, damit das unendliche Spiel weitergehen kann.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte