Vom Sterben

Bei Rose und Mandel

Ein Besuch auf dem Friedhof von Czernowitz

Im Laufe der Geschichte wurde die rumänisch-ukrainische Provinz Bukowina unzählige Male von Fremden geplündert. Und doch gaben sie auch etwas hinzu: Im 19. Jahrhundert war sie zu einem Ort der Toleranz geworden. Stimmt das?

In meinem Reiseführer werden drei interessantere Sehenswürdigkeiten genannt. Das Museum der Bildenden Künste wegen seiner Jugendstil-Architektur. Die Universität von Czernowitz wegen der Vermischung des orientalisch-byzantinischen Stils mit der Formenwelt der westlichen Renaissance. Und schließlich der Friedhof. Am östlichen Stadtrand, in der Vorstadt Kaliczanka, breitet sich einer der größten Friedhöfe Mitteleuropas aus. Ein breiter Weg schneidet das Gelände entzwei. Auf der einen Seite liegt der jüdische Friedhof, auf der anderen Seite finden wir fast alle Völker der Donaumonarchie: orthodoxe, evangelische und katholische Gräber. Und was verbindet die beiden Seiten? Bilder von Gesichtern.  Porträts. Ohne Ausnahme, beinahe auf allen Grabsteinen finden wir Fotografien.

Die Völker existieren in dieser Form, so wie sie hier einander begegnen, nicht. Und man weiß auch gar nicht, ob sie wirklich so friedlich nebeneinanderher gelebt haben, so unbehelligt, wie sie jetzt hier liegen. Der Friedhof ist heute eigentlich schon kein organischer Teil der Stadt mehr, der jüdische Teil ist vermutlich ganz verlassen. Als wäre er gar nicht, als würde der Friedhof den Toten gehören und nicht den Lebenden. Dabei gehört der Friedhof den Lebenden.

Wir betreten ihn. Alles steht Kopf. Es ist ein furchtbares Gefühl durch einen Friedhof zu gehen, sagt jemand und hält sich die Hand vor die Augen. Manche merken gar nicht, dass sie auf Trümmern gehen, weil sie derart von den riesigen expressionistischen Skulpturengräbern überwältigt sind, sie merken nicht einmal, dass sie auf Leichen trampeln; die stellenweise megalomanen, synagogengroßen Grabsteine sind überwältigend. Überall Steine. Was für ein aufregendes Gefühl, auf den Leben und Leichen anderer zu trampeln. Das Leben anderer in drei Sekunden durchzulesen und zu durchleben. Anhand der Jahreszahlen stellt sich viel heraus, aber natürlich nicht alles. Auf den Grabsteinen aus der Zeit nach dem Krieg stehen Roter Stern und Davidstern nebeneinander, wenn ich nicht wüsste, warum, würde ich denken, es sei übertrieben. Auf einem der Gräber ist ein riesiges Porträt einer Frau zu sehen. Jemand hat nicht erlaubt, sie nur als „Rote“ zu begraben. Im Zweiten Weltkrieg wurden 50.000 Juden aus Czernowitz ermordet, sie ist wahrscheinlich eine der einigen Tausend Überlebenden, die 1948 nicht nach Israel ausgewandert sind, sie starb 1976.

Wir haben Angst vor dem Tod, doch beim Anblick der Grabsteine steht jedem die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Als würden wir ein Kreuzworträtsel lösen. Was wir im Friedhof sehen, existiert im Leben wohl kaum und bald wird es ganz verschwinden, denn wir finden die Gräber in einem außerordentlich schlechten Zustand vor. Eigentlich stehen wir in einer unausgefüllten Spalte des Kreuzworträtsels. Die Gräber sind überwuchert, die meisten umfangen lianenartige Ranken. Wir suchen zwischen dem Laub der Bäume und Sträucher und es kommt vor, dass wir gar nicht an sie herankommen. Die Natur nimmt sich den Menschen zurück. Auf den Steinen stehen Mosaiknamen der Vergangenheit: Zucker und Zuckermann, Herr Zwilling und Frau Zwilling, Rose und Mandel, Franzos und Antschel. Hier ruht die Mutter. Hier mein Sohn und mein Mann. Hier bin ich. Hier werde ich ruhen. (Wo bist du gestorben? In Michalka, im Lager?)

Das eine Grab ist ein riesiger Frauenkopf, es ist wie eine Kirche. Sie zeigen umher. Alle wundern sich, dass es eine solche Welt gibt oder, Verzeihung, gegeben hat. Dass es sie gegeben hat und sie noch zu sehen ist. Sie ragt geradeso aus der Erde hervor. Riesige Köpfe, kleine Frauenköpfe, Porträts von Ehemännern und Ehefrauen, Kinderporträts, kleinere Opferskulpturen, Inschriften, Inschriften, Inschriften. Auf Hebräisch, Deutsch, Ukrainisch, Russisch, Rumänisch. Czernowitz Friedhofsstadt. Wenn die Bukowina das Land der Bücher ist, dann ist Czernowitz die Stadt der toten Fotografien. Es braucht ein ganzes Gebiet, das heißt einen ganzen Apparat (Friedhof, Bestattung, Fotograf), um uns an die Gesichter der Verstorbenen zu erinnern.

Aus dem Ungarischen von Éva Zádor