Das ärmste Land, das reichste Land

„Wir wollten die Bücher feiern“

Katar investiert massiv in Bildung und hat dafür einen eigenen Stadtteil gebaut: die Education City. Die niederländische Architektin Ellen van Loon hat gemeinsam mit Rem Kohlhaas eine neue  Bibliothek entworfen

Ihr Büro wurde mit dem Bau von drei Gebäuden in der »Education City« beauftragt, darunter die Nationalbibliothek. Wie sah das Gelände dort vor Baubeginn aus?

Im Grunde war es Wüste. Die meisten Kinder im Nahen Osten werden für ihre Ausbildung ins Ausland geschickt. In Katar gab es den großen Wunsch nach einer eigenen Universität. Deswegen begannen sie die Education City zu bauen, wo sich Ableger international renommierter Universitäten angesiedelt haben, etwa die Cornell oder die Georgetown University. Für diese Institute wollte die Qatar Foundation eine Universitätsbibliothek haben – erst während der Planung beschloss man, eine Bibliothek für alle daraus zu machen, die Nationalbibliothek.

Wie hat die Kultur in Katar Ihre Entwürfe beeinflusst?

Die Kultur war der Ausgangspunkt der Überlegungen. Viele der neuen Gebäude in Doha sind von der vorhandenen islamischen Architektur inspiriert. Wir haben entschieden, ein modernes Gebäude zu bauen. Außerdem musste man natürlich das Klima bedenken. Als ich das erste Mal nach Katar flog, erwarteten mich tagsüber fast fünfzig Grad. Im Sommer kann man sich kaum draußen aufhalten. Darum braucht es öffentlichen Raum, der sich innerhalb von Gebäuden befindet. Es braucht Foren, um sich zu treffen und Zeit zu verbringen. Das war der Leitgedanke. Unser zweiter Wunsch war, die Präsenz der Bücher zu feiern. Heutzutage verschwinden sie in vielen Bibliotheken in den Kellern und digitalen Speichern. Wir dachten, es wäre schön, die Bücher wirklich sehen zu können. Wenn man an den Regalen entlangspaziert, kann man zufällig etwas entdecken – ohne sich von der Suchmaschine eines Konzerns leiten zu lassen.

Eine Besonderheit ist die »Heritage Library«, eine Sammlung historischer und antiquarischer Schriften ...

Eines Tages sagten unsere Auftraggeber, es gebe diese schöne Sammlung besonderer alter Bücher in Katar, ob wir sie nicht sehen wollten. Sie waren so wunderschön, dass wir beschlossen, sie zu integrieren. Wir legten eine Vertiefung an, wie eine Ausgrabungsstätte einer alten Stadt in Katar. Wenn Sie in die Bücherei kommen, sehen Sie unten die alten Schriften und gleichzeitig auf den Terrassen nach oben die zeitgenössischen Bücher.

Schlägt sich die arabisch-islamische Tradition auch in ­architektonischen Details nieder?

Es gibt im ganzen Mittleren Osten eine große Tradition von Mosaiken und Natursteinen, besonders Kalkstein. Für die Regale der Heritage Library haben wir iranischen Kalkstein genutzt, in den anderen Teilen italienischen Marmor. Man muss in Katar fast alles importieren, denn es gibt dort hauptsächlich Sand. Der Beton kommt immerhin aus Dubai.

Gerade haben Sie ein Projekt in Kopenhagen abgeschlossen, das besonders auf Nachhaltigkeit setzt. Konnten Sie in Katar nachhaltig bauen?

Beim Entwurf der ganzen Education City wurde mit Fernwärme geplant, was sehr nachhaltig ist. Und wir haben bei unseren Gebäuden natürlich auf Energieeffizienz geachtet. Es gibt aber einen Aspekt, den man von hier aus nicht bedenkt, den Sand! Es ist ein wirkliches Problem, Fenster zu öffnen. Es ist so viel Sand in der Luft, der nicht nur alles einstaubt, sondern auch die Elektrik und Technik beschädigt. Es ist uns aber gelungen, nicht die gesamte Bücherei zu klimatisieren, es kann Luft herein. Die alten Bücher sind natürlich in Vitrinen. Und die am häufigsten ausgeliehenen Bücher müssen ohnehin alle paar Jahre erneuert werden.

Haben Sie das Gefühl, dass für Ihre Auftraggeber das Konzept der Nachhaltigkeit wichtig war?

Nicht als wir angefangen haben – aber das Thema ist absolut im Kommen. Das liegt auch an der schwierigen geografischen Lage und der wirtschaftlichen Blockade. Gerade wird viel über nachhaltige Landwirtschaft nachgedacht, um eigenes und nicht importiertes Gemüse nutzen zu können.

Wie ist es für Architekten, mit viel Geld im reichsten Land der Welt zu arbeiten?

Die vielen Möglichkeiten machen es nicht immer einfacher! Wir sind natürlich gewohnt, mit schmaleren Budgets zu arbeiten. In Katar wird Luxus aber auch durch »goldene Wasserhähne« symbolisiert und manche Materialen, die für uns gar nicht interessant sind.

Die Bedingungen für Arbeiter in Katar wurden viel kritisiert. Wie haben Sie sie auf den Baustellen erlebt?

Die Situation auf den Baustellen selbst war nicht so problematisch, aber die Unterkünfte der Arbeiter und wie sie dort leben. Hier war eine der wichtigsten Fragen: Bis zu welcher Temperatur ist es zumutbar, draußen zu arbeiten? Aber auch in unseren westlichen Gesellschaften kommen die meisten Arbeiter aus ärmeren Ländern und wir müssen uns fragen: Wie behandeln wir sie?

Doha ist in den letzten Jahrzehnten sehr schnell gewachsen. Was bedeutet das für eine Stadt?

Die Katarer haben viele Megabauten, aber sie haben sich glücklicherweise relativ schnell besonnen, die alten Viertel im Zentrum zu erhalten. Und die Baugeschwindigkeit verlangsamt sich zum Glück.

Haben Sie die neuen Fußballstadien für die WM 2022 ­gesehen?

Noch nicht. Ich habe 2006 die alte Pferderennbahn gesehen, wunderschön gestaltet mit traditionellen Zelten, an deren Stelle nun ein neues Stadion steht. Das sind die Dinge, auch die kleineren Formate der ursprünglichen Kultur, die Katar bewahren sollte – sonst sieht Doha irgendwann aus wie jede andere Stadt im Nahen Osten.

Wird die neue Bibliothek von der Bevölkerung genutzt?

Oh ja! Während der Woche wird sie vor allem von den Studenten genutzt, aber an den Wochenenden kommen tatsächlich ganze Familien und verbringen den Tag dort ...

Wie war es, als Frau dort zu arbeiten?

Ich stieg ins Flugzeug ohne eine Vorstellung davon, was mich erwartet. Natürlich überlegt man sich, wie man sich verhalten soll, aber ich entschied mich einfach dazu, ich selbst zu sein, und das hat gut funktioniert. Überrascht war ich vor allem von den Meetings, in denen nur Frauen anwesend waren. Sie waren dann plötzlich so offen. Mehr, als man anderswo gewohnt ist. Wir hatten viel Spaß! 

Das Interview führte Friederike Biron