„Verhindern, dass Städte kollabieren“
Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt in Städten. Gerechtigkeitsfragen werden hier entschieden.
Frau Kacyira, Sie sind der Ansicht, dass Ungleichheit und Stadtentwicklung voneinander abhängen. Können Sie das erklären?
Ungleichheit tritt in konzentrierter Form auf, wo Menschen auf engem Raum zusammenleben, und das ist in Städten natürlich der Fall. In Großstädten ist der Grund und Boden teuer. Zusammen mit den oft unzureichenden öffentlichen Transportmöglichkeiten sorgt das dafür, dass Arm und Reich räumlich voneinander getrennt sind. Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Dieser Trend wird auch in Zukunft kaum abflauen, darum müssen wir uns kritisch und vorausschauend mit der Planung auseinandersetzen. In einem dicht besiedelten städtischen Raum sind die Wege kürzer, darum fallen pro Kopf weniger Kosten an, wenn man beispielsweise den öffentlichen Nahverkehr gut plant. Dies bietet auch großes Potenzial zur Reduzierung von Treibhausgasen.
Haben die ärmsten Staaten der Welt wie die Zentralafrika- nische Republik nicht größere Probleme als Stadtplanung?
Im Gegenteil. Eine gute Stadtplanung kann gerade in solchen Ländern als Katalysator von Wachstum und sozialem Fortschritt genutzt werden. Ich hatte selbst politische Verantwortung in einem Land, in dem die Ressourcen knapp sind. Als Bürgermeisterin der ruandischen Hauptstadt Kigali standen mir nicht viele Mittel zur Verfügung. Und trotzdem konnte ich dort mit einer verbesserten Strategie der Stadtentwicklung vieles zum Positiven verändern. Wenn es keine ausreichenden finanziellen Mittel oder schwache institutionelle Strukturen gibt wie in den ärmsten Ländern der Welt, dann können Verantwortungsträger nur eines tun: Sie müssen versuchen, Probleme zu identifizieren und vorausschauend zu planen. Bürgermeister und Städteplaner sind dabei am nächsten an den Menschen dran. Mit den richtigen Strategien können sie viel bewegen, besonders, wenn sie von den nationalen Regierungen unterstützt werden. Außerdem haben viele der grundlegenden Probleme, die solche Staaten plagen, durchaus mit Urbanisierung und Stadtentwicklung zu tun.
Inwiefern?
In vielen Ländern sind Hunderttausende von Menschen als Binnenflüchtlinge in Bewegung. Wie und wo können sie untergebracht werden? Und wie lässt sich verhindern, dass die größten Städte unter dem starken Bevölkerungswachstum und der Landflucht, die dort oftmals vorherrscht, nicht kollabieren? In vielen armen Ländern herrschen Konflikte, sie sich oft über viele Jahrzehnte hinziehen und dafür sor- gen, dass Menschen dauerhaft ihre Heimat verlieren. Wenn Menschen vor den Folgen eines solchen Konflikts flüchten, ziehen sie oft in die Städte. Diese versuchen, die Neuankömmlinge aufzunehmen und dafür auch längerfristige Lösungen zu finden. Zeitgleich müssen Menschen unterstützt werden, die in ihre Heimatorte zurückkehren wollen.
Wie können erfolgreiche Maßnahmen in armen Ländern aussehen?
In Kigali haben wir beispielsweise die bürokratischen Schritte zum Erhalt von Baugenehmigungen vereinfacht und dadurch Investitionen angeregt. Oft lassen sich Investoren anlocken, wenn man nur die richtigen Bedingungen schafft. Wichtig ist, dass wir die Entwicklung an die Bedürfnisse der Bevölkerung anpassen. So wirkt es sich zum Beispiel oft positiv aus, die Rechte von Frauen zu stärken, denn Frauen sind von urbaner Armut ganz besonders betroffen. Auch Jugendliche müssen eingebunden werden, denn in vielen afrikanischen Ländern ist das Durchschnittsalter sehr niedrig und junge Menschen sind wichtige politische Entscheidungsträger. Diese Dinge müssen vor Ort von Verantwortungsträgern angegangen werden. Dafür braucht es aber nicht immer nur finanzielle Mittel, sondern gute institutionelle Strukturen und Planung.
In reichen Ländern lässt sich Stadtplanung viel schneller umsetzen. In Katar leben bereits mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt Doha, die immer weiter modernisiert wird. Ist das ein Zukunftsmodell?
Die Situation in Katar ist sehr speziell. Der hohe Grad der Urbanisierung hat hier viel mit der kleinen Staatsfläche zu tun. Der Ressourcenreichtum erlaubt den Aufbau einer modernen Infrastruktur und große Bauprojekte. Grundsätzlich bestehen jedoch auch Probleme von Ungleichheit in vielen entwickelten Ländern, wie die Wohnungsraumkrise in vielen Großstädten zeigt. Zudem gilt es auch die Fragen der Nachhaltigkeit zu lösen. Wie lässt sich eine Stadt organisieren, damit Umwelt- und Luftverschmutzung nicht zu einem Problem werden? Wo werden öffentliche Räume angelegt, um eine inklusivere Gesellschaft zu fördern? All diese Fragen sind von zentraler Bedeutung, werden aber in wohlhabenden Ländern nicht unbedingt immer besser beantwortet. Insofern hat gute Planung nicht nur mit Wohl- stand zu tun, auch wenn es natürlich hilft, Mittel für die Infrastruktur und soziale Programme zur Verfügung zu haben.
Metropolen wie Doha und Dubai sind also keine Vorbilder zum Thema gelungenes Städtemanagement?
Das lässt sich nicht so einfach verallgemeinern. Jedes Land und jede Stadt ist anders. Man kann jedoch Erfolgsfaktoren guter Urbanisierung identifizieren. Nehmen wir das Beispiel Saudi-Arabien: Erst vor Kurzem sind saudische Verantwortliche auf UN-HABITAT zugekommen, und ha- ben in Sachen Städteplanung und Wohnungsbau um Hilfe gebeten. Wir arbeiten dort mit der Regierung an einem so- genannten City Prosperity Index, der Produktivität, Infrastruktur, Lebensqualität, Inklusion, Nachhaltigkeit sowie insitutionelle Strukturen und Gesetze misst. So kann man Fortschritte bei der Stadtplanung ermitteln. Starkes urbanes Wachstum bedeutet jedoch nicht immer Fortschritt. Der Prozess muss gut geplant werden.
Urbanisierung ist also nicht von Natur aus positiv?
Städte sind Motoren für den Wohlstand. Es gibt kaum effektivere Lebensräume als moderne Großstädte. Aber Urbanisierung bedeutet auch immer, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Es ist wichtig, sich um die Verlierer zu kümmern. Ohne gute Pläne werden die neuen Stadtzentren schnell zu segregierten Orten. Wenn das Wachstum unkontrolliert ist, können die nötigen Strukturen meistens nicht aufgebaut werden. Die vielen positiven Auswirkungen des öffentlichen Raumes werden oft unterschätzt, etwa für die Lebensqualität, den Transport, aber auch für die Sicherheit und die kulturelle Vielfalt. Schafft man nicht explizit gut gestalteten öffentlichen Raum, der für alle zugänglich ist, dann wird er vom Wachstum oft zugwuchert. Hier liegt die Verantwortung bei den Institutionen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene. Organisationen wie UN-HABITAT können Staaten helfen, den Prozess der Urbanisierung bes- ser zu begleiten und von guten Erfahrungen anderer zu profitieren. Letztlich müssen maßgeschneiderte Lösungen für jeden einzelnen Fall gefunden werden.
Welche Städte taugen denn in dieser Hinsicht bereits heute als Musterbeispiele?
Wenn ich mich auf zwei Beispiele festlegen müsste, dann wären es Berlin und Singapur. In Berlin ist es ausgesprochen gut gelungen, eine alte, schnell wachsende Stadt global attraktiv zu machen und dabei gleichzeitig ihre Seele zu konservieren. Und Singapur ist das Paradebeispiel dafür, wie durch cleveres Stadtmanagement gegen Ungleichheit vor- gegangen werden kann. Durch massiven öffentlichen Woh- nungsbau hat es der Staat dort geschafft, auf engstem Raum bezahlbare Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Und auch in internationalen Rankings zur Lebensqualität ist Singapur immer vorn dabei. Aber man muss bedenken, dass Singapur ein sehr hohes Pro-Kopf-Einkommen hat und außerdem ein Stadtstaat ist.
Wie lassen sich derartige Erfolgsrezepte Ihrer Meinung nach global umsetzen?
Man kann diese Rezepte nicht eins zu eins überall umsetzen. Es wird in Zukunft vor allem darum gehen, Politiker auf verschiedenen Ebenen, Städteplaner, Experten, NGOs, den Privatsektor und Bürger näher zusammenzubringen und auch für einen internationalen Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet der Städteplanung zu sorgen. Mit dem Weltstädteforum existiert dafür bereits ein Instrument. Das nächste Forum wird 2020 in Abu Dhabi stattfinden. Die World Urban Campaign bringt zudem internationale Universitäten, Denkfabriken und private Unternehmen mit politischen Entscheidungsträgern zusammen, um neue Strategien für nachhaltige Stadtentwicklung zu entwerfen. Erst wenn sich in Zukunft Bürgermeister aus Deutschland mit Städteplanern aus der Zentralafrikanischen Republik und Politikern aus Katar zusammensetzen, um ihre Daten und Erkenntnis- se zu vergleichen, werden wir auch effizientere Strategien finden, die global angewandt werden können. Die richtigen Datensätze und empirischen Erkenntnisse spielen dabei ein wichtige Rolle, ebenso Koalitionen von Akteuren. Denn nur, wenn auch die Zivilgesellschaft mit eingebunden wird, können wir den immensen Herausforderungen der Urbanisierung gerecht werden.
Das Interview führten Gundula Haage und Kai Schnier