Orte des Übergangs
Nur selten sind die Grenzen innerhalb Europas als solche erkennbar. Eine Bilderreihe macht sie sichtbar
Im Januar 1995 zog ich zum ersten Mal von Italien ins Ausland, nach Paris. Als Italiener eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, war eine große Herausforderung. Ich wurde mehrfach aufs Polizeipräsidium zitiert, jedes Mal sollte ich noch ein Dokument vorlegen. Einmal musste ich lange warten, nur um ein Papier noch einmal mit schwarzer Tinte zu unterschreiben, das ich nachlässig in Blau unterzeichnet hatte. Zwei Monate nach meiner Ankunft, als ich die notwendigen Dokumente endlich erhalten hatte, die mir erlaubten, auf französischem Boden zu bleiben, zerschmolz diese riesige Verwaltungsmaschinerie wie Schnee in der Sonne: Italien wurde Teil des Schengen-Raums. Für die französische Bürokratie war ich nicht länger ein italienischer Migrant. Ich war ein europäischer Bürger geworden.
Jahre später, ich hatte meinen Job als Strategieberater aufgegeben, um mich ganz der Fotografie zu widmen, suchte ich nach einer Möglichkeit, diese historische Veränderung zu veranschaulichen. Ich wollte einer elementaren Errungenschaft Europas Respekt zollen: der Freizügigkeit.
Das war der Anfang eines Fotoprojektes, »Borderline – Frontiers of Peace«. Über zehn Jahre hinweg führte es mich durch den ganzen Kontinent, von Portugal nach Bulgarien, von Finnland nach Griechenland, kreuz und quer an fast 20.000 Kilometern europäischer Grenzen entlang. Ich bereiste Europas älteste Grenze zwischen Portugal und Spanien, die seit dem 13. Jahrhundert nahezu unverändert ist. Ich erkundete seine jüngsten Grenzen, etwa diejenige zwischen Deutschland und Polen. Offiziell ratifiziert 1991, war diese Grenze noch 1996 die am stärksten patrouillierte Europas, durchschnittlich alle 400 Meter war ein Wachmann postiert. Am Ostseestrand bei Heringsdorf besteht die Grenze heute aus einem hölzernen Spazierweg zum Strand.
Aber geben Sie einmal bei der Google-Bildersuche »Grenze« ein – die Ergebnisse sind deprimierend: Mauern, Stacheldraht, Hindernisse und Flüchtlinge. Diese Bilder sind nicht repräsentativ. Der französische Geograf Michel Foucher errechnete, dass nur sechs Prozent aller Grenzen weltweit wirklich abgesperrt sind. Ich war stolz, als Europa 2012 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das Nobelpreiskommittee schrieb: »Die Union und ihre Vorläufer haben in den vergangenen sechzig Jahren zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen.« Vor allem diese letzten Worte sind heute fragwürdig geworden, und damit die gesamte Konstruktion Europas und des Schengen-Raums. Europa steckt in einem Dilemma zwischen seinen Werten und ihrer Durchsetzung. Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt?
Ich war Zeuge einiger Feiern des Friedens und der Brüderlichkeit entlang dieser Grenzen. Etwa in Sopron, an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich, wo das paneuropäische Picknick 1989 Geschichte machte und den Fall der Mauer mit anstieß. Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit, Robert Goebbels kennenzulernen. Als Staatssekretär im luxemburgischen Außenministerium unterzeichnete er mit Vertretern aus Frankreich, Deutschland, Belgien und Holland das Schengen-Abkommen am 14. Juni 1985. Er erzählte mir, dass ein paar Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens Busse voller Touristen, sogar aus Japan, in Schengen ankamen. Zur Überraschung seiner 400 Einwohner wollten sie diesen kleinen luxemburgischen Ort an der Mosel erkunden, der an Deutschland und Frankreich grenzt. Der Besucheransturm veranlasste die Gemeinde zum Bau eines europäischen Museums.
Wir sollten ein Netzwerk solcher Orte der »Grenzen des Friedens« schaff en, um dieses einzigartige Erbe sichtbar zu machen. Warum nicht als UNESCO-Welterbestätten? Es ist unsere Verantwortung, den nächsten Generationen einen Sinn für die Besonderheit dieser Orte weiterzugeben.
Aus meinem Projekt ist nicht nur ein Buch und eine Wanderausstellung entstanden, sondern auch eine Anzahl pädagogischer Inititativen. In Grundschulen verschiedener Länder ermunterten wir die Schüler ein Bild zum Stichwort »Grenzlinie« zu zeichnen. Die Ergebnisse sind sehr interessant. In Frankreich etwa sahen wir viele Zeichnungen friedlicher Landschaften, aber überraschenderweise auch Mauern zwischen Frankreich und Deutschland. Der Irrtum der Kinder sollte uns alarmieren: Es gibt noch eine Menge, die wir ihnen über Europa beibringen müssen.
Derzeit erweitere ich das Projekt in Richtung Balkan. Letzten Herbst war ich zu einer Ausstellungseröff nung im kroatischen Vukovar und habe in Schulen über Europa gesprochen. In einer der Klassen entdeckte ich die Zeichnung der neunjährigen Paola. Sie hatte ihr Gehirn gezeichnet, mit einer Barriere darin, die die Dinge, die sie wusste, von denen, die sie nicht wusste, trennte. Paola aus Vukovar, der Märtyrerstadt des Krieges in Ex-Jugoslawien, wo die Narben des Krieges noch sichtbar sind, hat recht: Die Grenzen verlaufen vor allem in unseren Köpfen.
Aus dem Englischen von Friederike Biron