Dohas Sprachrohr
Al Jazeera galt lange als Hoffnungsträger eines neuen arabischen Journalismus. Wie der katarische Fernsehsender allmählich von der Politik vereinahmt wurde
Schon um die Anfänge des Fernsehsenders AL JAZEERA ranken sich Geschichten von Intrigen und politischem Kalkül. Sieben Monate bevor die Station 1996 in Doha, Katar, ihren Sendebetrieb aufnahm, hatte Prinz Hamad ibn Chalifa Al Thani seinen Vater, den Emir Chalifa ibn Hamad, in einem unblutigen Staatsstreich entthront. Der Prinz stieg zum mächtigsten Mann Katars auf – und schwor sich, diejenigen zu strafen, die sich seinem Machtanspruch jahrelang in den Weg gestellt hatten. Insbesondere sein Groll gegen Saudi-Arabien und Ägypten, Staaten, die seinen Vater unterstützt und im Amt gehalten hatten, trieb ihn an. Jetzt, wo er endlich aus den Schatzkammern Katars schöpfen konnte, wollte er sich rächen – rhetorisch und politisch. Und womit ließ sich der öffentliche Diskurs besser in seinem Sinne dirigieren, als mit einem eigenen Fernsehsender? Der erste ideologische Grundstein für AL JAZEERA war gelegt.
Die zweite, nicht minder größenwahnsinnige Kalkulation, die der Gründung AL JAZEERAS vorausging, war das Bestreben, der westlichen und insbesondere amerikanischen Deutungshoheit im Fernsehen mit einem eigenen katarischen TV-Sender entgegenzutreten. Während des Ersten Golfkriegs 1991 hatten amerikanische Sender wie CNN die Kriegsberichterstattung revolutioniert. Mit aktueller Vorort-Berichterstattung brachten sie den Krieg in Echtzeit in Wohnzimmer rund um den Globus – und sicherten den USA ein Bildermonopol auf das, was am Golf vor sich ging. Plötzlich wurde in den Fernsehstudios von New York City und Washington D.C. entschieden, welche Bilder die Weltgemeinschaft in den Abendnachrichten zu sehen bekam. AL JAZEERA sollte diese gefährliche Machtkonzentration als eine Art »arabisches CNN« durchbrechen.
Der kometenhafte Aufstieg des Senders kurz nach seiner Gründung hatte dann allerdings nur wenig mit den verqueren politischen Visionen zu tun, die in katarischen Hinterzimmern erdacht wurden. Vielmehr begünstigte der soziopolitische Nährboden, auf den AL JAZEERA zur Jahr- tausendwende traf, die Entwicklung des Senders. In der arabischen Welt herrschte zu diesem Zeit- punkt ein weitverbreitetes Gefühl der Machtlosigkeit. Millionen von Menschen kämpften mit der Gewissheit, dass ihre Staaten stagnierten, die Politiker moralisch bankrott waren und es an Alternativen mangelte. Dieses ideologische und politische Vakuum nutzte AL JAZEERA aus. Im Handumdrehen gewann der Sender eine treue Anhängerschaft, insbesondere unter der arabischen Jugend und in radikalisierten Teilen der Gesellschaft. So wurde die politische Debattiersendung »Al-Ittijah Al-Mua’akis«, zu Deutsch »Die Gegenbewegung«, bereits 2003 von mehr als dreißig Millionen Menschen verfolgt.
Außerdem fiel die Gründung AL JAZEERAS in eine Zeit, in der sich das Verhältnis zwischen der Arabischen Welt und dem Westen grundlegend wandelte. Der Diskurs arabischer Intellektueller verschob sich langsam: Während sie im 20. Jahrhundert noch das Dogma »Lerne vom Westen« predigten, mutierten Europa und insbesondere die USA in der arabischen Wahrnehmung im 21. Jahrhundert mehr und mehr zu kriegswütigen Antagonisten. »Identität durch Ablehnung« wurde zum neuen Dogma der arabischen Selbstfindung erhoben – und AL JAZEERA fungierte als Sprachrohr dieses Bewusstseins. Im Westen selbst nahm man den Aufstieg des Senders derweil nicht unbedingt als Gefahr wahr. Das Interesse an der Politik und Kultur des Nahen Ostens und Nordafrikas hatte in den 1990er-Jahren einen Höhe- punkt erreicht und viele politische Beobachter feierten die Gründung AL JAZEERAS als ein Indiz für das Aufkommen einer neuen panarabischen Stimme. Unter populistischen Linken und USA-Kritikern in Europa und Amerika wurde der Sender zeitweise sogar als ein willkommenes antiamerikanisches Gegengewicht wahrgenommen. Dass George W. Bush die Fernsehstation wiederholt für ihre Programmauswahl kritisierte, festigte ihren guten Ruf nur.
Und tatsächlich schien es für eine Weile so, als könne der Sender aus Katar die Machtverhältnisse in der globalen Medienlandschaft nachhaltig verändern: Junge arabische Journalisten bekamen erstmals die Möglichkeit, in großem Maßstab aus ihren Heimatländern zu berichten. Mit der Professionalisierung des Senders heuerten auch immer mehr renommierte Reporter, unter anderem von der britischen BBC, bei AL JAZEERA an. Für einen kurzen Augenblick schien es möglich, dass sich in der Redaktion in Doha arabischer und westlicher Journalismus, moderne Berichterstattung und traditionelle Prägung unter einem Dach vereinen lassen würden; dass es ein Fernsehprogramm geben könnte, das einerseits in Sendungen wie »Al-Sharia wal-Haya« (»Religiöses Gesetz und Leben«) islamische Lebensweisheiten verbreitete und andererseits objektive und lebensnahe politische Berichterstattung aus dem Nahen Osten und Nordafrika in den Äther schickte. Trotz des Einflusses des katarischen Königshauses schien sich AL JAZEERA zu einem ernst zu nehmenden Nachrichtensender zu entwickeln.
Doch diese Hoffnung, die nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch unter linken Intellektuellen im Westen gehegt wurde, sollte schon allzu bald enttäuscht werden. In der Berichterstattung zum Israel-Palästina-Konflikt zeichnete sich erstmals ab, dass AL JAZEERA nicht der Sender war, der den Wunsch nach einem unabhängigen arabischen Fernsehsender erfüllen würde. Palästinensische Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten wurden mitunter vor laufender Kamera zu Helden- und Märtyrertaten erklärt. Wurde ein Israeli ermordet, behalfen sich Reporter mit einem schlichten »getötet«, ermordeten Israelis wiederum Palästinenser, dann handelte es sich dabei um »Gräueltaten« und »eklatante Menschenrechtsverletzungen«. Im Jahr 2004, während der amerikanischen Belagerung der irakischen Stadt Falludscha, ließ sich der ägyptische AL JAZEERA-Reporter Ahmad Mansour, der aus seiner politischen Nähe zur Muslimbruderschaft nie einen Hehl gemacht hatte, gar zu einem Bericht verleiten, in dem er schilderte, »mit eigenen Augen« gesehen zu haben, wie Engel vom Himmel herabstürzten, um an der Seite der irakischen Widerstandskämpfer gegen die Amerikaner zu kämpfen. Siege über »den bösen Westen« zu erfinden, wo es keine Siege gab, und die ohnehin schon brutale Kriegsrealität im Sinne der eigenen Ideologie und der Einschaltquoten noch brutaler darzustellen, wurde zum Tagesgeschäft des Senders.
Gleichzeitig schaffte es die Redaktion aus Doha, die katarische Politik immer wieder aus dem Programm auszusparen. Während der Einfluss des katarischen Königshauses auf die Berichterstattung des Senders für lange Zeit eher subtil zu sein schien, trat er spätestens mit dem Beginn des Arabischen Frühlings immer offensichtlicher hervor. In mehreren Berichten wurden die Muslimbrüder zur neuen politischen Hoffnung der arabischen Welt verklärt. Als Mohammed Mursi 2012 in Ägypten zum Staatspräsidenten gewählt wurde, feierte AL JAZEERA unverhohlen mit. Und auch in Hinblick auf die Wirtschaftsblockade, die Saudi-Arabien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägypten seit 2017 gegen Katar verhängt haben, tut sich der Sender nicht als unabhängiges panarabisches Medienhaus, sondern eher als Ausführungsgehilfe der katarischen Politik hervor. Statt Hintergründe aufzudecken, hat man sich als Schoßhund des Königshauses positioniert.
Dass der Ruf AL JAZEERAS deshalb nicht zuletzt auch im Nahen Osten selbst gelitten hat, dürfte spätestens klar sein, seit im Forderungskatalog zur Aufhebung der Blockade gegen Katar 2017 unter anderem auch die Schließung des Senders auftauchte. Den politischen Gegnern des Golfstaats ist daran gelegen, dass AL JAZEERA seine Pforten schließt. Allerdings nicht, weil ihnen an der Förderung des unabhängigen Journalismus gelegen ist, sondern weil sie mit den gleichen Mitteln wie Katar um die mediale Deutungshoheit kämpfen. Was AL JAZEERA für Katar ist, ist der Nachrichtensender AL-ARABIYA für Saudi-Arabien.
Nicht nur unter den Feinden Katars ist AL JAZEERA in Verruf geraten, auch die Unterstützung innerhalb der eigenen Zuschauerschaft bröckelt. Die unablässige Unterstützung der Muslimbrüder und Mohammed Mursis in Ägypten führte spätestens nach dessen Absetzung dazu, dass sich kritischere Teile des Publikums von dem Sender abwandten. Und wo die arabische Jugend einst noch darauf hoffte, in dem katarischen TV-Sender ein neues Sprachrohr für ihre Wünsche und Sorgen gewonnen zu haben, da wendet sie sich heute enttäuscht ab und loggt sich bei Facebook ein. AL JAZEERA hat sich längst selbst um die Chance gebracht, eine echte arabische Medienrevolution anzuzetteln.
Aus dem Englischen von Annalena Heber