Die höchsten und die niedersten Gefühle
Guram Dotschanaschwili beschreibt in »Das erste Gewand« das menschliche Dasein in Zeiten politischer Tyrannei
Erdbeben, Erdbeben«, schrie die Vermieterin des Autors und stürzte aus dem Haus. Es war Weihnachten 1978. Gerade hatte Guram Dotschanaschwili den letzten Satz seines Romans »Das erste Gewand« verfasst. Nach 13 Jahren Schreibarbeit erinnerte sich der Georgier an einen regionalen swanischen Brauch: Wenn die Männer ein großes Tier erlegt haben, machen sie zu Ehren Gottes einen Handstand mit Überschlag. Als der Autor sich in seinem Zimmer überschlug, schepperte das Geschirr im Schrank und die Vermieterin geriet in Panik.
Diese Geschichte erzählt Guram Dotschanaschwili in einem Interview. Dabei könnte sie auch aus seinem Roman stammen – einer literarischen Herausforderung auf knapp 700 Seiten. Nicht nur, weil es neben einer Haupthandlung unzählige Geschichten voll wundersamer Gestalten gibt. Dotschanaschwili hat nicht weniger als ein Epos verfasst, das zugleich archaisch und ausgesprochen modern ist. Domenico, der Sohn des Dorfältesten, ist die zentrale Figur. Die abenteuerlichen Erzählungen eines Flüchtlings animieren ihn zu einer Reise. Vorher bittet er seinen Vater, ihm seinen Erbteil auszuzahlen: 6.000 Drahkan. Auf seiner Wanderschaft gelangt Domenico nach Feinstadt, Kamora und Canudos, fi ktive, symbolisch aufgeladene Schauplätze. In Feinstadt ruft der Nachtwächter: »Es ist zwei Uhr nachts und alles ist in Ooordnung«, in Kamora herrscht politische Willkür und Canudos erscheint als Stadt der Freiheit.
Dotschanaschwili hat sein Werk nicht geografi sch verortet, doch es ist ein klares Bekenntnis gegen staatliche Repression. Als Gymnasiast wurde der Autor zusammen mit anderen Jugendlichen verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er antisowjetische Flugblätter verteilt hatte. »Das erste Gewand« erschien erst nach der Perestroika unzensiert auf Russisch. Verhandelt werden in diesem von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse souverän übersetzten Roman die niedersten Instinkte des Menschen – Machtgier, Sadismus, Tyrannei –, aber auch das höchste der Gefühle, wobei ein Satz des Werks im Georgischen zum gefl ügelten Wort geworden ist: »Es ist die Liebe, die die Erde zum Drehen bringt.«
Als Rahmenhandlung des Romans dient das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Evangelium nach Lukas. Durch das Meer von Geschichten navigiert ein postmodern verspielter Erzähler, der sich wiederholt an den Leser wendet: »Auf meiner Schulter liegt die Hand eines blinden Riesen, und keiner weiß, ob ich ihn leite oder er mich.«
Das Ganze ergibt eine reizvolle literarische Mischung. Eine fantastische Welt mit irdischen Grausamkeiten. Angesiedelt zwischen Allegorie, Gesellschaftssatire und Märchen. Die Kunst des Autors besteht darin, reale und fantastische Elemente so elegant ineinanderfl ießen zu lassen, dass man sich nicht wundert, wenn in einer Baumhöhle ein einbeiniger Kobold steckt. Zur Romangesellschaft gehören auch ein grasgrüner Mann, der selbstverliebte Zwerg Umberto oder der Irre Ugo.
»Das erste Gewand« ist eine unendliche Geschichte aus Georgien, wie die überraschende Wendung am Ende zeigt. Doch der originelle Mix von Politik und Fantastik und der literarische Reichtum haben ihren Preis. Viele Figuren sind stark typisiert. Was in Märchen oder Fabeln gut funktioniert, schmälert auf Hunderten von Seiten die Leselust. Einzig der Vagabund Domenico durchläuft eine größere innere Entwicklung, die besonders im letzten Teil des Romans auch zu berühren vermag.
So ruft der Roman widersprüchliche Gefühle hervor. Man kann sich in den Erzähler verlieben und sich den Figuren fern fühlen, von der stilistischen Finesse begeistert sein und sich doch weniger Allegorie und mehr Fleisch und Blut wünschen. Auch wenn sich der Leser nach der Lektüre nicht unbedingt überschlagen will, staunen kann er allemal – über die sprachliche Gelenkigkeit und literarische Akrobatik.
Das erste Gewand. Von Guram Dotschanaschwili. Hanser, München, 2018.