Das ärmste Land, das reichste Land

Blutgetränkter Boden

Immer wieder kommt es in unserem Land zu massiven Gewaltausbrüchen. Wie die Menschen gelernt haben, mit der Allgegenwart des Todes umzugehen

Die Zentralafrikanische Republik ist heute ein strahlend schönes Tal der Tränen, in dem merkwürdigerweise Freudengeschrei und festliches Trommeln erklingen. Die Allgegenwart des Todes, auf den immer neue Gewalt folgt, nimmt der Bevölkerung weder ihre Heiterkeit noch ihre Hoffnung. Das Geheimnis der Widerstandsfähigkeit dieser Menschen liegt möglicherweise im kindlichen Geist, der die Bantu auszeichnet. Ich bin überzeugt, dass der zentralafrikanischen Seele eine so rege und ungestüme Lebensfreude innewohnt wie dem immergrünen Äquatorialwald. Sie gleicht einer geplagten Mutter mit kleinen Kindern: Auf dem Rücken trägt sie ihr Baby fest in ein Tuch gebunden, während sie zwei weitere Kinder an den Händen hält. Doch unermüdlich schreitet sie voran, ohne dass ihre schwere Last sie störte – vielmehr ist sie von der Notwendigkeit, ihren Nachwuchs zu schützen und zu versorgen, beschwingt. Ebenso wenig halten all die schweren, tragischen Bürden den Zentralafrikaner davon ab, das Leben zu feiern.

Der Zentralafrikaner ist ein Paradox, wie die Ereignisse vom 1. Mai 2018 in der Landeshauptstadt Bangui zeigen: Der Himmel strahlte azurblau, die Regenzeit hatte den Pflanzen und Bäumen im grünen Mantel der Hoffnung wieder ein frohes, erhabenes Aussehen verliehen. Doch nur wenige Stunden später sollte sich ein schreckliches Drama ereignen. Ein Rebellenangriff auf die voll besetzte katholische Kirche Notre-Dame von Fatima in Bangui. Es ist ein scheußlicher Gegensatz: die Pracht der Natur und die Hässlichkeit der Ereignisse, die Harmonie von Blumen und Bäumen und die Kriegswut der Menschen … Allzu viele Dramen haben sich hier ereignet, vor aller Augen, vor Männern, Frauen, Alten, Kindern: Dörfer wurden in Brand gesteckt, Siedlungen überfallen, Greise, schwangere Frauen, Kinder, Menschen verbrannt, zerstückelt, in einigen Fällen auch gegessen … Feuer, Blut, Tod, Tod und nochmals Tod!

Alphonse ist ruiniert. Sein Geschäft, das er sich mühsam aufgebaut hatte, lief seit den 1990er-Jahren zunehmend schlechter, bis hin zum völligen Bankrott. Bei jedem Aufstand kamen die Plünderer: Heute lebt er in Armut ... Pierrette wurde vergewaltigt, ihre Töchter auch ... Der kleine Jean hat sich unter dem Bett versteckt. Er ist mit dem Leben davongekommen, musste aber mit ansehen, wie seine Eltern und seine kleine Schwester, die noch ein Säugling war, mit Messern getötet und zerstückelt wurden … Baani aus dem Volk der Fulben wird seinen großen Bruder und seinen Vater nie wiedersehen. Sie weideten die Zebus, als plötzlich ihre Mörder kamen: Alle Menschen und Tiere starben … Die kleine Amina und ihre Brüder sind Waisen. Ihre Eltern kamen auf dem Rückweg vom Markt in die Fänge einer aufgebrachten Menge, die Gewalttaten zwischen den religiösen Gruppen rächte, die beiden an Autoreifen fesselte und verbrannte ... Djibril kennt nur den roten Boden des sudanesischen Viertels: Hier ist er geboren. Schon seine Eltern und Großeltern haben hier gelebt. Mit einem Mal heißt es, er sei Ausländer und solle fortgehen – nur wohin?

Der zentralafrikanische Boden ist getränkt von unschuldigem Blut, das Wasser mancher Brunnen ist ungenießbar, weil Leichen darin schwimmen. Wie lassen sich in dem von Barthélemy Boganda, dem ersten Premierminister der Zentralafrikanischen Republik, erträumten Land die Traumata dieser unermesslichen Tragödie überwinden? Wie entzieht man sich dem Diktat von Hass, Gewalt und Vergeltung? Welchen Heiligen weiht man sein Leben, um der Hoffnungslosigkeit zu entgehen, welche die alltäglich gewordene Barbarei überall verbreitet? Oder ermöglicht die Widerstandsfähigkeit der Zentralafrikaner nicht gerade die bösartige Gewaltspirale verhängnisvoller Ereignisse?

Tatsächlich ist es erstaunlich, wie schnell und leicht sich die Menschen von Leid und tiefer Trauer über eine schmerzliche Vergangenheit auch wieder freimachen können. Das schicksalhafte Datum vom 5. Dezember 2013, als  die paramilitärischen Anti-Balaka-Gruppen die Séléka-Milizen angriffen und das Töten fast die Ausmaße eines Völkermords annahm, löst heute kaum noch Schaudern aus – pathologisches Vergessen oder heilsame Einstellung?

Gewiss liegt eine Erklärung für die rätselhafte Stehauf-Mentalität der Bevölkerung in ihrem kathartischen Humor. Der Zentralafrikaner ist jemand, der etwa beim Verlust seines Obdachs, wenn er im Auffanglager wohnt, dieses scherzhaft sein »Ledger« nennt. Das Hotel Ledger ist bekannt als das einzige Fünfsternehotel des Landes und gilt als »kleines Paradies«. Und wenn die Helikopter der UN-Truppen über die Köpfe der Menschen hinwegfliegen und todbringende Konflikte ankündigen, gibt der Zentralafrikaner diesen den Spottnamen »mama èna« (Mutter Erzählerin), den sonst Leute bekommen, die besonders gerne Klatsch und Tratsch verbreiten. Der Zentralafrikaner ist jemand, der seine Hohn- und Racheglüste spontan in die Zeilen von Volksliedern kleidet, der von Dramen berichtet, als wären es Randmeldungen, und ihnen so die Schärfe nimmt.

Eine Art »sensus religiosus«, ein Religionssinn, zeichnet die Seele des Zentralafrikaners aus. Das Wort »Religion« steht hierbei auch für historische Religionen. Sie verliehen ihm eine unverwüstliche Lebenskraft; schufen in ihm einen Raum für Frieden und Hoffnung und ein so dringendes Verlangen nach Leben, dass er alle Übel überwindet. Dieser Grundstock unerschütterlicher Hoffnung verleiht meinem Volk die Lebenskraft, die der kamerunische Philosoph Fabien Eboussi Boulaga das »Muntu« nennt. Der Zentralafrikaner ist eine Feier mit lebendiger Kraft, die das Tal der Tränen überwindet. Er ist ein Herz, das Herz Afrikas, Bè Afrika, das unaufhaltsam schlägt, getrieben vom unerschöpflichen Leben.

Aus dem Französischen von Andreas Jandl