Eine Geschichte geht um die Welt

Eine Geschichte geht um die Welt (Kapitel 7 von 8)

Während des Corona-Lockdowns haben wir acht internationale Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, gemeinsam eine Erzählung zu schreiben. Kapitel 7

Siebtes Kapitel, von Claudia Piñeiro (Argentinien)

So schnell wie möglich stand Elsa wieder auf. Das panische Geschrei, das eingesetzt hatte, nachdem das Gefäß aus Glas zu Bruch gegangen war, wirkte übertrieben. Die Agha rief: »Schnell, einen Lappen und eine saubere Flasche!« Als die anderen davonstürmten, um ihrem Befehl nachzukommen, ließen sie die Tür zu dem Zimmer offen. Genau die Tür, durch die Elsa entkommen wollte. In der Dunkelheit nahm sie einen zitternden Schimmer über den Glasscherben wahr. Sollte es mit der Polarnacht, die angefangen hatte, etwa schon wieder vorbei sein? Es hat begonnen, erinnerte sich Elsa. »Es hat begonnen«, sagte Die Agha, die reglos neben den Scherben kauerte. Konnte sie Gedanken lesen, oder hatte auch sie ganze Sätze aus Lew Smidowytschs Tagebüchern im Kopf? Hatte sie die brüchigen Papiere gelesen, oder wiederholte sie nur das Wenige, was Elsa preisgegeben hatte?

»Bedeutet diese Dunkelheit, dass man uns das Licht genommen hat, oder gibt es einfach den Tag nicht mehr?« Elsa näherte sich der Wand. Die Agha rührte sich auch jetzt nicht, offensichtlich wartete sie auf die Rückkehr der anderen. Elsa und das, was sie mitzuteilen hatte, schien auf einmal nicht mehr ihre Hauptsorge zu sein.

Was hatte Lew Smidowytsch über das Verstreichen der Zeit gesagt?

Die Dunkelheit wurde immer durchlässiger – die Polarnacht war tatsächlich dabei, sich zu verabschieden. So schnell ging das? Oder war Elsa in Wirklichkeit schon viel länger in der Hütte, als sie sich einbildete? Was hatte Lew Smidowytsch über das Verstreichen der Zeit gesagt? Sie konnte sich an keinerlei Zeitangaben auf den 317 Seiten des in Schreibschrift abgefassten Textes erinnern, den sie am Nachmittag davor in der Nationalbibliothek eingescannt hatte. Am Nachmittag davor? Wie lange hatte die Nacht denn gedauert, die Elsa schlafend in der Hütte verbracht hatte? Hielt diese Nacht immer noch an? Oder hatte inzwischen eine neue Nacht angefangen? Wie viele Nächte waren wohl vergangen? »Alle Nächte.«

Eine Frau, vielleicht die, die ihr die Orange angeboten hatte – jetzt hatte sie allerdings keine Orange mehr in der Hand –, stürmte herein und ging neben Die Agha und den Scherben in die Hocke. Beide fingen an, sich kaum merklich rhythmisch vor- und zurückzubewegen, als sprächen sie gemeinsam ein Gebet. Was genau sie da taten, blieb für Elsa ein Rätsel, offensichtlich kümmerten sie sich jedoch nicht mehr um sie, was sie nutzte, um sich der Wand noch ein wenig mehr zu nähern. Kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, spürte sie etwas Feuchtes am Knie. Angstvoll fragte sie sich, ob sie sich beim Sturz an einer Glasscherbe geschnitten hatte. Genauer in Augenschein nehmen konnte sie die Stelle nicht, dafür war der Widerschein des durch die offene Tür auf die Scherben fallenden Lichts noch zu schwach. Als sie die vermeintliche Wunde betasten wollte, stieß sie auf den offensichtlich unversehrten Stoff ihrer Hose. Sie führte die Hand an die Nase, schnupperte daran. Nach Blut roch das nicht. Dann legte sie die Finger an die Lippen, berührte sie mit der Zungenspitze – die Flüssigkeit wies keinen besonderen Geschmack auf. Es konnte nur Wasser sein. Das Gefäß, das zu Bruch gegangen war, musste also Wasser enthalten haben. Vielleicht war es das Gefäß, das sie beim Betreten der Hütte gesehen hatte, auf dem Tisch, neben dem Besteck und den Tellern mit der dampfenden Suppe. Wer hatte es wohl in das Zimmer gestellt, in dem sie die Nacht verbracht hatte? Und warum neben ihr Bett?

Aber vor einigen Tagen war das Trinkwasser, das ich in der Apotheke immer in mehreren Flaschen kaufte, fast aufgebraucht. Je weniger Wasser, desto schlechter meine Laune.

Angestrengt spähte Elsa in die Dunkelheit. Die Frau schien den Lappen jetzt immer wieder auf den Boden zu pressen und anschließend über der Öffnung der Flasche, die Die Agha festhielt, auszuwringen, um das verschüttete Wasser so zu retten. Die Agha fing an zu weinen, falls man das laute Wehklagen, das Elsa zu hören bekam, so bezeichnen konnte. Die Frau mit der Orange – beziehungsweise ohne Orange – umarmte sie.

Die Agha heulte. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte Elsa davon.

Offenbar wollte sie sie aber nicht trösten, sondern bloß das Gewimmer zum Verstummen bringen, als könnte sie es nicht ertragen. Dann rief sie durch die Türöffnung laut nach den anderen. Bevor diese auftauchten, schob Elsa sich an der Wand entlang auf die Tür zu. Und lief dann durch die geöffnete Tür nach draußen. Als sie kurz darauf den Hütteneingang hinter sich ließ, hörte sie die Schritte, die sich dem Zimmer näherten, in dem Die Agha heulte. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte Elsa davon.

Die Einsamkeit. Der Mangel an Trinkwasser. Es hat begonnen.

Bei ihrem Fahrrad auf der Lichtung am Waldrand angekommen, stieg Elsa auf und radelte los. Sie schrieb es der Angst zu, dass sie kaum Luft bekam, ohne zu bemerken, dass der Weg anstieg, was ihr zusätzlich Kraft abverlangte. Sie konnte die auf dem Weg liegenden Steine spüren, die Schlaglöcher und die Spuren, die der letzte Regen hinterlassen hatte. Erst als sie das Gefühl hatte, sich so weit von der Hütte entfernt zu haben, dass davon keine Gefahr mehr für sie ausging, wurde ihr bewusst, dass sie keinen Asphalt unter den Reifen hatte, und das konnte nur bedeuten, dass sie nicht in Richtung Stadt fuhr, sondern wieder den Wald ansteuerte. Ihren Wald. In der Ferne konnte sie deutlich ein Licht ausmachen, das sich zwischen den Baumwipfeln hindurch seinen Weg bahnte. Wenn etwas begonnen hatte, wie Lew Smidowytsch verkündet hatte, war das keine Polarnacht. Vielleicht war es auch weniger ein Anfang als ein Erwachen.

Während sie allein durch den Wald radelte, versuchte sie sich an andere Stellen aus dem Tagebuch zu erinnern, die womöglich den Schlüssel des Künftigen enthielten. Sie wusste, dass dies ihre letzte Gelegenheit war. Sie wusste, dass sie einen Punkt erreicht hatte, von dem aus es kein Zurück gab. Dass man sie festnehmen würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte, in ihr bisheriges Leben, zu ihrer Arbeit in der Nationalbibliothek, bezweifelte sie nicht. Vielleicht würde man sie auch töten. Die Regierung, die Ultras oder die Anhänger der Agha. Wer waren in der neuen Welt die Guten und wer die Schlechten? In der Hütte, in der sie eine oder mehrere oder alle Nächte zugebracht hatte, hatte man ihr von Verbündeten erzählt. Sie sei auch eine Verbündete, hatte es geheißen. Aber woher sollte sie wissen, ob sie denjenigen, die sich anmaßten, mit ihr verbündet zu sein, tatsächlich trauen konnte? Sie hatte das Gefühl, vollkommen allein zu sein. Und sie war sich sicher, dass auch Lew Smidowytsch sich so gefühlt hatte, als er das letzte Wort auf die letzte Seite des Tagebuchs schrieb, das sie eingescannt hatte. Sie schloss die Augen – ohne deswegen anzuhalten – und sagte sich, sie sei Lew Smidowytsch. »Ich bin Lew.« Alles, was Lew gewusst hatte, wusste auch sie. Wenn manche Fragen Elsas noch unbeantwortet waren, lag das daran, dass sie an den falschen Stellen gesucht hatte. Die Polarnacht. Die Mathematik. Die Gleichungen. Alejo Carpentier half ebenso wenig weiter, und auch die Anmerkungen an den Seitenrändern nicht – es gab keine versteckten Hinweise, keine Geheimnisse. Von wegen, Lew Smidowytsch hatte 317 Seiten vollgeschrieben, um Wissen weiterzugeben, seinen Nachfolgern sollte klar sein, was zu tun war, wenn die Welt erneut in tausend Stücke zerfiel. Entsprechend klar und eindeutig musste seine Nachricht gewesen sein.

Elsa ließ das Zeichen hinter sich, das den Mittelpunkt des Wegs durch den Wald markierte, einen behauenen Stein, den man in einer Lichtung aufgestellt hatte. Sie hatte davor angehalten und war abgestiegen, um zu lesen, was darauf stand: »Von hier führt der Weg zurück. Vergessen Sie nicht, dass die Seen zur Verbotszone gehören.« Das Licht in der Ferne wurde immer heller. Elsa nahm an, dass es der Widerschein des Sonnenlichts auf der Oberfläche des verbotenen Wassers war.

Erneut dachte sie an ihre Mutter. Einmal hatte sie ihr erzählt, dass sie schwimmen könne – früher sei es erlaubt gewesen, in den Seen zu schwimmen. Elsa glaubte zu wissen, was »schwimmen« sei, ganz sicher war sie sich aber nicht, schließlich hatte sie das nie gemacht. Oder doch. »Du bist geschwommen, Elsa, natürlich bist du geschwommen, als du in meinem Bauch warst – im Fruchtwasser. Falls du irgendwann mal schwimmen musst, brauchst du keine Angst zu haben. Die Angst ist ein schwerer Stein, der dich untergehen lässt. Lass dich einfach im Wasser treiben und vertraue darauf, dass du weißt, wie es geht, schließlich hast du es schon gemacht, als du noch nichts wusstest, als du noch nichts warst. Du bist geschwommen, Elsa, und wenn du irgendwann wieder schwimmen musst, wirst du das auch tun.«

Was war der Unterschied zwischen dem Wasser aus den Seen und dem aus der Flasche, die Lew Smidowytsch sich in der Apotheke besorgte?

Seit der Katastrophe vor dreißig Jahren hatte niemand mehr in einem See oder Fluss gebadet. Aus den Schwimmbecken hatte man das Wasser abgelassen. Zu viele Todesfälle. Aber was hatte das Wasser mit den Todesfällen zu tun? Elsa versuchte sich zu erinnern, ob Lew irgendwo in seinem Tagebuch auf diese Frage einging. In der Schule hatten sie schon in der ersten Klasse und dann immer wieder zu hören bekommen, die Katastrophe habe damit begonnen, dass alle Leute Durst gehabt hätten. Sie kannte niemanden, der gewagt hätte, ohne eine Flasche Trinkwasser in Reichweite zu leben. Am Anfang von Lews Text hieß es: »Die Stadt war leer. Nicht einmal die Vögel waren noch da. Als hätte man sie vergiftet. Oder erschreckt. Aber was könnte einen Vogel in einer großen Stadt schon erschrecken? Vielleicht Massen von Menschen. Oder deren Abwesenheit.« Was hatte Lew Smidowytsch so erschreckt, dass er sich auf die Straßen einer leeren Stadt begeben hatte? Das Wasser oder der Durst? Die Angst, in einer Welt, in der es nicht genug Wasser für alle gab, Durst zu verspüren. Deshalb hielten seit der Katastrophe alle stets eine Flasche, einen Krug, einen Eimer oder eine Badewanne voll Wasser bereit, oder ein Gefäß wie das in der Hütte, das Elsa hatte zu Bruch gehen lassen. Knappes Wasser, verbotenes Wasser, Wasser, das die Katastrophe ankündigte. Durst. Lew Smidowytsch, der auf der Suche nach seiner Flasche durch die tote Stadt irrte. Elsas Mutter, die ihr Mut machte, damit sie schwimmen konnte, falls sie eines Tages aus irgendeinem Grund würde schwimmen müssen. Die seltsamen Leute aus der Hütte, in der sie die Nacht verbracht hatte, die durchdrehten, als Elsa ihr Gefäß zu Bruch gehen ließ. Der behauene Stein im Wald, der daran erinnerte, dass die Seen weiterhin zur Verbotszone gehörten, sich außerhalb des erlaubten Bereichs befanden. Warum? Was war an diesem Wasser so besonders? Was war der Unterschied zwischen dem Wasser aus den Seen und dem aus der Flasche, die Lew Smidowytsch sich in der Apotheke besorgte?

Die Bäume wurden niedriger. Elsa trat weiter angestrengt in die Pedale. Ihr Hinterreifen war offensichtlich platt. Das war ihr jedoch egal. Ja, das Licht war eindeutig der Widerschein eines anderen Lichts auf der Wasseroberfläche. Elsa hob den Blick vom Lenker und sah endlich den See vor sich. Vom Waldrand an erstreckte er sich in unendliche Ferne. Quer durch die Verbotszone. Das gegenüberliegende Ufer war nicht zu erkennen. Wo der Wald endete, hatte man Stacheldraht aufgespannt, damit niemand auf die Idee kam, weiterzugehen. Elsa stieg vom Fahrrad und ließ es einfach zur Seite kippen. Der Anblick der grenzenlosen Wasserfläche, die sich vor ihr ausbreitete, berührte sie tief. Langsam und ängstlich machte sie ein paar Schritte darauf zu. Den Stacheldraht sah sie auf einmal nicht mehr, sie blendete ihn aus, als gäbe es ihn nicht. Und sie fragte sich, ob das, was sie gleich erleben würde, womöglich das Glück war.

Es hat begonnen.

Und wenn das, was da anfing, diesmal keine Katastrophe, sondern eine Hoffnung war, ein neuer Tag, eine bessere Welt, die manche bloß nicht teilen wollten?

Lew Smidowytschs Tagebuch war vielleicht gar nicht als Anleitung für das Verhalten bei der nächsten Katastrophe gedacht – vielleicht wollte es vielmehr ein Hilfsmittel sein, um ein neues Gleichgewicht herzustellen.

Fernes Sirenengeheul unterbrach die Stille im Wald und über dem friedlichen Wasser. Ein Motorengeräusch kam näher. Vielleicht stammte es von einem Hubschrauber. Oder von einer Drohne. Elsa war klar, dass ihr keine Zeit blieb, sie musste sich entscheiden. Zwei Lichtbündel durchkämmten den Wald, auf der Suche nach ihr. Da kletterte Elsa über den Stacheldraht. Diesmal roch sie tatsächlich ihr eigenes Blut, aber das machte ihr nichts aus. Sie lief ans Ufer und sprang in den See. Ließ sich mit ausgebreiteten Armen versinken. Öffnete die Augen und sah die Blasen um sich herum, die sich beim Eintauchen ins Wasser gebildet hatten. Und dann machte sie sich bereit für den ersten Schwimmzug, sie brauchte dafür nicht zu überlegen, genau wie ihre Mutter gesagt hatte.

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

 

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