Die feinen Unterschiede

Was macht den Menschen zum Menschen? Der Verhaltensforscher Michael Tomasello vergleicht ihn mit Menschenaffen. Sein neues Buch interessiert sich vor allem für die Entwicklung in den ersten Lebensjahren

Ein Porträtfoto eines Menschenaffen. Er blickt direkt in die Kamera.

Menschenaffe

Sie sind wie wir! Vor dem Schimpansengehege des Primatenforschungszentrums der Emory University begeistert sich Michael Tomasello mit einem Kollegen über die unglaubliche Ähnlichkeit von Schimpansen und Menschen: die Emotionen, die Interaktion, der Gebrauch von Werkzeugen! Bis einer der Affen beginnt, von seinem Klettergerüst herabzupinkeln und ein anderer sich daruntersetzt und den Mund aufsperrt. Okay, ähnlich sind sie uns, aber gewisse Unterschiede lassen sich doch nicht leugnen, konstatiert der Psychologe. Das war 1980. In einem persönlichen Rückblick von 2018 erinnert er sich: „In dem Moment konnte ich vage sehen, wie aufregend es sein würde, Menschenaffen und Menschenkinder in ihrer Entwicklung zu vergleichen.“ Damit hatte Tomasello sein Lebensprojekt gefunden: Erst an der Emory University in Atlanta, später als Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie und am Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum in Leipzig widmete er sich der Erforschung des Verhaltens und der Fähigkeiten von Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans und Menschenkindern. 2016 kehrte Tomasello, längst vielfach ausgezeichnet, in die USA zurück und forscht dort nun an der Duke University in Durham, wo er einst auch studierte.

Sie sind uns ähnlich und doch wieder nicht: das macht die Menschenaffen so faszinierend. Für Tomasello sind sie darüber hinaus auch ein Erkenntniswerkzeug, ein Spiegel, der uns die Eigenheiten unserer eigenen Spezies deutlicher sehen lässt. Indem wir uns mit den Affen vergleichen, sehen wir besser, was den Menschen ausmacht.

Betrachtet man den Menschen durch die Brille der Evolution, geraten vor allem Ähnlichkeiten und graduelle Übergänge in den Blick. Viele Forscher betonen, worin sich Mensch und Menschenaffe nicht unterscheiden. Grundsätzliche Differenzen führen sie auf zu grobe Forschungsmethoden zurück, die den Affen nicht ermöglichten, zu zeigen, was in ihnen steckt. Tomasello hingegen schaut auf die Unterschiede. Aus dieser Perspektive hat er nicht nur zahlreiche Fachaufsätze, sondern auch allgemein verständliche Bücher geschrieben: über die Entstehung des Denkens (2002 und 2014), der Kommunikation (2009), der Kooperation (2010) und der Moral (2016). In seinem neuen Buch fasst er seine Arbeiten nun zusammen, spinnt einen roten Faden, der sie – im Rückblick – verbindet, und gibt eine Antwort auf die große Frage, was den Menschen denn nun vom Affen unterscheidet. Was führt dazu, dass wir vor dem Affengehege stehen und sie darin sitzen?

Je ähnlicher sich Tier und Mensch sind, desto leichter lässt sich der Beobachter aufs Glatteis führen

Das Buch hätte keine 540 Seiten, wenn sich die Antwort auf ein Schlagwort reduzieren ließe, doch in ihrem Zentrum steht, was Tomasello „kollektive Intentionalität“ nennt: die Fähigkeit der Menschen, gemeinsam auf die Welt zu schauen, die Köpfe zusammenzustecken und Projekte zu verfolgen. Der Schlüssel zu dieser Erkenntnis liegt für Tomasello in der Ontogenese, der Entwicklung des Individuums (im Unterschied zur Phylogenese, der Entstehung der Art). Denn Veränderung, erläutert der Autor, kommt nicht nur durch mutierte Gene in die Welt, sondern vor allem durch die Art und Weise, wie bestehende Gene abgelesen werden, welche Rolle sie also in der Entwicklung des Individuums spielen. Diese Entwicklung analysiert er bei Menschenaffen und Menschenkindern bezogen auf die soziale Kognition, also die Fähigkeit, andere und deren Perspektive wahrzunehmen. Außerdem untersucht er die Kommunikation, das kulturelle Lernen und vor allem die „einzigartige menschliche Sozialität“, will heißen, die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen zu handeln.

Affen können, etwa beim Jagen, zusammenarbeiten, sie können sich vorstellen, was der andere sieht – und sich dann den Happen greifen, der gerade nicht in ihrem Blickfeld liegt. Und wenn man es geschickt anstellt, bestehen Menschenaffen auch den berühmten Test auf falsche Überzeugungen: Sie können also nachvollziehen, dass ein anderes Individuum etwas glauben kann, was nicht der Realität entspricht. Und doch, so Tomasello, sind Affen, auch die großen Menschenaffen, wesentlich Egoisten: in ihren Kenntnissen und ihrer Moral. Sie können nicht über ihren Vorteil hinaus denken, spätestens, wenn es an das Verteilen der Beute geht, ist sich jeder selbst der Nächste. Schimpansen schleppen Beute nicht in die Gruppe und verhandeln über ihre Verteilung. Und auch wenn sie verfolgen, was ein anderer Affe sehen kann, vergleichen sie dessen Perspektive nicht mit der eigenen, sondern nutzen diese Fähigkeit nur für ihre Ziele. Sie „zielen einfach nur so gut, wie sie können, auf die Wirklichkeit ab, ohne alternative Perspektiven zu verarbeiten“, so Tomasello. Er nennt dies „individuelle Intentionalität“: Der Affe schaut als Individuum auf die Welt und macht das Beste daraus.

Der Mensch hingegen versteht, dass die Welt für andere anders aussieht. Schon mit etwa neun Monaten entwickeln Menschenkinder die Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit, so Tomasello: Sie machen andere auf etwas aufmerksam oder folgen ihren Blicken und Gesten. Mit drei Jahren dann beginnen Kinder zu verstehen, wie man gemeinsam Ziele verfolgen kann, sie beginnen zusammen zu spielen, statt nebeneinander. Und sie lernen, die eigene Ansicht im Lichte anderer Perspektiven zu reflektieren, und dass es neben den verschiedenen Perspektiven auf die Welt so etwas wie eine Wirklichkeit gibt, der unsere Meinungen egal sind. Damit verstehen sie auch, dass sie sich einer Meinung versichern können, indem sie noch einmal nachfragen. Dazu müssen sie dann entscheiden, wen sie fragen und wem sie vertrauen. Sie lernen, die Stellung Einzelner in der Gruppe zu beobachten, und die ganze Welt der komplexen sozialen Dynamik menschlicher Beziehungen tut sich ihnen auf, samt Normen und Erwartungen, Konformitätsdruck und dem selbstkritischen Blick auf das eigene Tun.

Dies alles zusammengenommen, so der Autor, ermöglichte den Beginn eines neuen Evolutionsprozesses: der Kultur. In einer Kultur werden Wissen und Fertigkeiten durch Unterricht, durch Anleiten, Vormachen und Korrigieren an die nächste Generation weitergegeben. So kommt es zu einem „Wagenhebereffekt“: Statt immer wieder von vorn anzufangen, kann jede Generation auf den Vorarbeiten der vorigen aufbauen und so neue Höhen erklimmen.

Natürlich ignoriert auch diese Perspektive die Evolution nicht: „Evo-Devo”, evolution and development, Evolution und Entwicklung, heißt der Ansatz, der beide Perspektiven zusammendenkt. Seine spezifische Ausprägung dieses Ansatzes nennt Tomasello „neo-vygotskijsch“: „vygotskijsch“, weil sie an die Überlegungen des sowjetischen Psychologen Lev Vygotskij anschließt, dass sich die menschliche Psyche in der Kindheit im Austausch mit anderen entwickelt, und „neo“, weil sie eben die evolutionäre Perspektive einbindet. Im Zuge der Evolution entwickeln sich also grundlegende Fähigkeiten, die Mensch und Menschenaffe teilen, in der Entwicklung des Kindes in der menschlichen Kultur entfalten sie sich auf die typisch menschliche Weise. Viele psychologische Prozesse, Kommunikation, Lernen, Helfen und soziale Bewertung, gab es also schon vor den Menschen, aber erst die menschliche Individualentwicklung formte diese Prozesse zur menschlichen Psychologie um. „Reifung“ nennt Tomasello diesen Prozess.

Kinder präsentieren anderen ihre Spielzeuge, Menschenaffen tun dies nicht einmal, wenn Menschen sie dazu animieren.

Dieses theoretische Grundgerüst ist ein beeindruckendes Ergebnis jahrzehntelanger Forschung, ist aber zum größten Teil aus seinen früheren Büchern bekannt. Neu ist, wie stark Tomasello die Rolle der Individualentwicklung betont, und neu sind die Ergebnisse zahlreicher Studien, die in Leipzig in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Das Buch fasziniert vor allem, weil Tomasello so detailliert die Entwicklung seiner eigenen Überlegungen aufzeigt. Je ähnlicher sich Tier und Mensch sind, desto leichter lässt sich der Beobachter aufs Glatteis führen. Auch die Unterschiede in der Entwicklung von Menschen- und Affenkindern liegen nicht einfach auf der Hand. Vielmehr gilt es, die Erkenntnisse in immer wieder sorgfältig modifizierten Studien zu verfeinern. Tomasello berichtet von ausgefuchsten Studiendesigns und langen Diskussionen über die Interpretation ihrer Ergebnisse, von neuen Versuchen, etwa mithilfe thermografischer Kameras zu messen, welche Dinge für ein Individuum der Aufmerksamkeit wert sind. Erst diese detaillierte Schilderung, die dem Leser durchaus Geduld abverlangt, macht klar, wie aufwendig diese Art der Forschung ist: Wie bringt man Affen und Menschenkinder dazu, mitzumachen? Wie muss eine Aufgabe aussehen, damit sie für beide eine vergleichbare Herausforderung darstellt? Was kann man überhaupt aus dem Verhalten in Gefangenschaft gehaltener Affen schließen? Wie sind „unkontrollierte“ Berichte über das Verhalten frei lebender Affen im Vergleich zu Studien mit Zootieren zu bewerten?

Tomasello erörtert zahlreiche Kritikpunkte, die an seiner auf die Unterschiede konzentrierten Forschung immer wieder formuliert werden, thematisiert mehrfach die teilweise dünne Studienlage, die Probleme, überhaupt mit sehr jungen Affen zu forschen. Auch sprachlich bleibt er stets vorsichtig und abwägend, sieht seine Linie jedoch letztlich immer wieder bestätigt: Ja, Affen haben eine gewisse Vorstellung von einfachen physikalischen Zusammenhängen, sie verstehen, wohin der andere schaut, manchmal helfen sie einander. Doch Menschenkinder sind vor allem mit den sozialen Fähigkeiten deutlich früher dran: Was sie mit zwei Jahren fertigbringen, zeigt sich bei Schimpansen erst mit vier Jahren. Menschenkinder lächeln ihre Bezugspersonen an, Menschenaffen zeigen keine solche emotionale Interaktion. Menschenkinder präsentieren anderen ihre Spielzeuge, Menschenaffen tun dies nicht einmal, wenn Menschen sich bemühen, sie dazu zu animieren.

Stück für Stück und für den Leser immer wieder in Entwicklungsdiagrammen zusammengefasst, setzt Tomasello aus solchen Puzzleteilchen das Bild einer „hypersozialen“ Spezies zusammen, deren Individuen sich immer enger verbinden: Der Mensch korrigiert schon in frühester Kindheit sein eigenes Verhalten im Lichte der Erwartungen der Gruppe. So entsteht ein Verband, der gemeinsam planen und handeln kann und damit viel flexibler ist als die stets auf den eigenen Vorteil bedachte Primatenverwandtschaft.

Die vielen Details, Studien und Abwägungen, mit denen Tomasello seine Thesen untermauert, machen das Buch zu keiner leichten Lektüre. Der Autor schreibt Wissenschaft zum Nachvollziehen, keine großen Erzählungen. Dafür bekommen die Leser ein beeindruckendes Bild davon, wie vergleichende Primatenforschung funktioniert und wie genau man hinsehen muss, um zu erkennen, was uns zu Menschen und Affen zu Affen macht – und wie viele Fragen noch offen sind.

Mensch werden. Eine Theorie der Ontogese. Von Michael Tomasello. Suhrkamp, Berlin, 2020.