Eingeschlossen in Sarajevo
Damir Ovcinas Roman führt den Schrecken des bosnischen Genozids vor Augen
In diesen Tagen reden alle von Europa als einzigem Instrument, das die nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen in den Gesellschaften dieses Kontinents eindämmen kann. Wer den Roman »Zwei Jahre Nacht« gelesen hat, dem wird diese Utopie spätestens danach nicht mehr in besonders rosigen Farben erscheinen. Der Autor Damir Ovcina beschreibt detailliert die Hilflosigkeit, Verlassenheit und Desillusionierung eines 18-Jährigen, der während der 1.425 Tage andauernden Belagerung der bosnischen Stadt Sarajevo zwischen 1992 und 1996, in einer Wohnung lebte, die mitten an der Front lag. Niemand kam, um ihm oder den anderen Eingeschlossenen zu helfen. Europa schaute der längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts zu und sah, wie eine multinationale Stadt ethnisch gesäubert wurde. 11.000 Menschen kamen ums Leben.
Der bosnische Schriftsteller Ovcina, der selbst 1973 in Sarajevo geboren ist, hat diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht: Er war während der Belagerung im Stadtteil Grbavica eingeschlossen. Das ist eines der Stadtteile im Zentrum Sarajevos, in dem nach Beendigung des Krieges kein Stein mehr auf dem anderen lag. Hunderte Wohnhäuser und das Fußballstadion waren niedergebrannt worden, Wohnungen ausgeplündert und einfach alles kurz und klein geschossen. In Grbavic peinigten, schlugen, vergewaltigten, folterten, vertrieben und ermordeten serbische Soldaten, Milizen und Kriminelle tausende Bewohner, die sie für »Türken«, »Moslems« oder andere Feinde hielten.
Ebenda spielt »Zwei Jahre Nacht«. Eigentlich wohnt die Hauptfigur hier gar nicht, er ist nur hier, weil er nach dem Tod seiner Mutter ein wenig Abstand von zu Hause braucht. Als er abends zurück zu seinem Vater will, halten ihn serbische Soldaten auf und lassen ihn nicht aus dem Viertel. Was zunächst nur nach einer Nacht in einer unbewohnten Wohnung aussieht, wird zu einem fast vierjährigen Zwangsaufenthalt. In dieser Zeit weiß er nicht, wo sein Vater ist und ob er das Massaker an der Stadtbevölkerung überlebt. Mehrere Monate wird er gezwungen als Teil einer Arbeitsbrigade Leichen, Kühlschränke und Ofenherde aus den Wohnungen der Ermordeten, Vertriebenen und Geflüchteten zu schleppen. Die Leichen werden unter Bäumen und in Straßengräben verscharrt, die Haushaltsgeräte werden Hehlern oder dem Nachbarn übergeben, der zufällig den richtigen Namen trägt.
Ovcinas Roman heißt im bosnischen Original »Als ich mal Hodscha war«. Der Titel spielt auf den Spitznamen an, den der Protagonist von seinen serbischen Peinigern erhält: »Hodscha« (eine Anrede für islamische Religionslehrer). Besoffen und blutberauscht versuchen sie den Hodscha zu zwingen, für sie zu beten. Aber der Hodscha ist keiner. Er ist ein ganz normaler säkularer europäischer Junge ohne Glaubensbekenntnis, der aber für einen bosnischen Muslim gehalten wird, weil er einen Namen trägt, »der sich heutzutage in diesem Teil der Siedlung nicht empfiehlt«. Er muss für seine Schinder auch noch Folklorelieder singen, während eine muslimische Frau vergewaltigt wird und überlebt nur, weil er schließlich zum Mörder wird, und drei serbische Soldaten erschießt. Weil er nun abtauchen muss, verbringt er die nächsten drei Jahre in nur einem einzigen Haus, wo er sich mithilfe einer Lehrerin versteckt halten kann.
Im ganzen Roman werden im Übrigen keine Namen genannt. Weder der Protagonist noch die allermeisten anderen Personen lernen wir mit ihren Vor- oder Zunamen kennen. Doch die Abwesenheit der Namen unterstreicht die existenzielle Rolle, die sie in Wirklichkeit im blutigen Auseinanderbrechen Jugoslawiens gespielt haben, nur noch mehr. Denn allein der Name, von dem sich auf serbische, muslimische oder kroatische Herkunft schließen lässt, entschied in den meisten Fällen des Brandschatzens und ethnischen Säuberns auf dem Balkan darüber, ob man mit dem Leben davonkam.
Ein Pianist, der mit dem Ich-Erzähler von »Zwei Jahre Nacht« zusammen Leichen wegschleppen muss, regt ihn an, alles, was er sieht, hört, riecht, schmeckt und erlebt, ganz genau aufzuschreiben: »Farben, Menschen, Zahlen, Stunden, Tage, denn all das hätte man sich unmöglich vorstellen können.« Und der Protagonist hält sich dran. Im Stil von Agenturmeldungen, Telegrammen oder Protokollen berichtet er, oft ohne Verben und Adjektive, immer und immer wieder von denselben Dingen, Bewegungen, Personen, jahrelang: den Namen von Straßen, Automarken, Radiosendern, von Margarine, Zahnpasta oder Herdfirmen, den Bewegungen von Panzern, Krankenwagen oder weißen Golfs, dem Geruch des Bergkräutertees, den ständigen Schüssen vom anderen Ende der Straße. Das macht er so minutiös und stupend, dass das Lesen von über 750 Seiten einerseits quälend lang ist; andererseits lässt sich das Buch nicht aus Langeweile aus der Hand legen. Tut man es, fühlt es sich an, als begehe man den europäischen Fehler von damals zum zweiten Mal: die Augen zu verschließen vor den über Jahre immer gleichen Tagen europäischer Bürger zwischen Leichen-Wegräumen und Lebensmittel-Beschaffen.
Der Roman Ovcinas ist nicht weniger als die Chronik eines Urbanizids. Er ist die Chronik einer ethnischen Säuberung in einer europäischen Metropole, in der der Protagonist unfreiwillig zum Akteur dieser Säuberung wird. Er muss sein Viertel von Leichen freiräumen und die Wohnungen von den Spuren der Mieter, die hier nicht mehr sein dürfen. »Zwei Jahre Nacht« führt uns Europäern vor, dass die ethnische Säuberung des ehemaligen Jugoslawien nicht nur in abseits gelegenen Dörfern passierte, deren Namen keiner kannte. Der Roman zwingt uns zur Zeugenschaft in einer der blutigsten europäischen Tragödien des Nachkriegseuropa. Und er macht das in einer derart bestechenden Erzählweise, dass man ihn in die Reihe der ganz großen europäischen Romane stellen muss.
Zwei Jahre Nacht. Von Damir Ovcina. Rowohlt Berlin, 2019..