Die Poesie hat das Sagen

Wie die Initative »Poetische Bildung für Chile« Jugendlichen Literatur näherbringt 

Die dritte Klasse der Mittelstufe am Liceo República de Israel verschiebt ihre Schulbänke – es ist Zeit für ihre Spanischstunde. Aber nicht für irgendeine, sondern eine des Projekts »Por una Educación Poética para Chile« (»Poetische Bildung für Chile«). Es wurde 2015 von Agustín Benelli, einem Schriftsteller und Dichter aus Conceptión, ins Leben gerufen, um dem kreativen Schreiben einen Platz in Chiles Schulunterricht zu geben.

Vor der Klasse steht Patricia Cremaschi, eine Dichterin aus Punta Arenas. Sie schreibt einen Satz von Oscar Wilde an die Tafel: »Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie umzuschreiben.« An dieser Maxime wird sich die Doppelstunde thematisch ausrichten. Begeistert arbeiten die 15- und 16-jährigen Jugendlichen an der Aufgabe: Sie sollen die Geschichte eines vorher angehörten Liedes selbst umstrukturieren. Es geht, angelehnt an Homers »Odyssee«, um Sirenen und Liebe, und die Mädchen und Jungen spielen die Hauptrollen.

Für Cremaschi hat das Projekt einen sehr positiven Einfluss auf die Schüler: »Die Poesie unterstützt die kognitive Entwicklung der Jugendlichen. Dichter sind ständige Beobachter und Teilnehmer ihrer Realität. Ausdrucksvermögen und Leseverständnis sind Probleme in unserem Schulsystem, ihnen wird nicht viel Zeit gewidmet.« Auch Schüler und Lehrkräfte schätzen das Projekt, denn die Jugendlichen haben die Möglichkeit, etwas anderes auszuprobieren, was ungemein motiviert. Der Schüler Dorian Flor meint: »Dieser Unterricht ist sehr spannend, weil wir dabei unsere Gefühle ausdrücken können. Es ist auch toll, wenn Themen wie Philosophie oder Geschichte dabei vorkommen. Dass man mit der Sprache neue Sachen erschaffen kann, das macht mir am meisten Spaß.«

An dem Projekt beteiligen sich 2019 neun Schulen aus der Region Bío-Bío. Für insgesamt zwei Monate werden dort Autorinnen und Autoren jeweils für zwei Schulstunden wöchentlich den poesiefokussierten Unterricht bestreiten. »Die Jugendlichen haben Spaß und sind sehr empfänglich für diese Art von Unterricht. Die Poesie hat das Sagen, aber nicht als etwas Anstrengendes oder Theoretisches. Sie soll gelebt, sie soll verstanden werden, indem sie praktiziert wird«, sagt Su-sana Domínguez, Literaturlehrerin am Liceo República de Israel.

Begonnen hat das Projekt 2015 mit dem tourenden Dichtertreffen »El Claustro de las Ánimas«, bei dem sich Benelli mit weiteren chilenischen Dichtern austauschte. Er sagte damals: »Wir möchten den Zustand, dass in Chile fast gar keine poetische Bildung existiert, ändern. Wir setzen uns dafür ein, dass der Staat die Mittel zur Verfügung stellt, um zu erreichen, was in Ländern wie der Schweiz schon existiert, wo Musik als Verfassungsrecht garantiert ist. In unserem Land ist die Poesie besonders ausgeprägt, wir haben mit Gabriela Mistral und Pablo Neruda zwei Nobelpreisträger!«

Bereits 2018, im zweiten Jahr des Projekts, trafen bei internationalen Poesiefestivals in der Region Bío-Bío junge Schreibtalente aus dem Projekt mit Dichtern von internationalem Rang zusammen. 2019 sind nun neben Cremaschi die Dichter Alejandro Concha, Daniela Guerrero und der Ideengeber Agustín Benelli in die Lehrerrolle geschlüpft. Dieser erzählt freudig vom Conxiencia Verlag, dessen erste Ausgabe (»Poetische Bildung für Chile«) die Werke von 68 jungen Teilnehmern abdruckt, weitere Anthologien sind geplant. In diesem Jahr sollen die Poesiefestivals in den Klassenzimmern stattfinden, denn, so Benelli, »die Poesie soll sich in Bewegung setzen und mehr junge Menschen dazu bringen, sie mit anderen Augen zu sehen«.

Aus dem Spanischen von Laura Haber