„Die Magie des Bewusstseins“
Um von A nach B zu kommen, muss man sich nicht immer in ein Auto setzen, findet der Autor. Ein Gespräch über Reisen in der Literatur
Herr Okri, wenn Sie „Verkehr“ und „Transport“ hören, wo- ran denken Sie dann?
Vor allem an etwas Konzeptuelles.
Also an mehr als eine Bewegung von Ort zu Ort?
Ja, denn wer sich von A nach B bewegt, der unterwirft sich der Tyrannei des Raumes und stellt die Materialität der Welt über die Magie des Bewusstseins. Um zu reisen, muss man normalerweise in einen Bus steigen, das Auto nehmen oder zu Fuß gehen. Ich sitze lieber in London, schlage ein Buch auf und lese: „Du weißt, wie das ist, am frühen Morgen in Havanna ...“, steht da und im Bruchteil einer Sekunde habe ich London hinter mir gelassen. Das Wetter ist anders, die Luft hat sich verändert. Ich habe den Ort nicht verlassen, aber meine Realität hat sich verändert. Das ist die wahrhaftigste Form des Transportiertwerdens, eine Art vertikale Reise, keine horizontale.
Ist das auch Ihr Anspruch als Schriftsteller? Ihre Leser an einen anderen Ort zu versetzen?
Der Schriftsteller ist nicht derjenige, der den Leser bewegt. Er gibt lediglich einen Bedeutungsrahmen vor und schafft geistige Räume. Diese verwendet der Leser dann in Kombination mit all seinen Erinnerungen und Reiseerfahrungen und versetzt sich selbst in ein neues Reich.
Gibt es für Sie persönlich ein Buch, das Sie besonders weit weg transportiert hat?
Ich erinnere mich, dass ich einmal in Lagos war und Tschechow las. Ich stolperte über das Wort „Samowar“, dessen Bedeutung ich nicht kannte. Ginge es nach mir, hätte es sich bei einem Samowar um einen Elefanten handeln können. Aber mein Geist arbeitete daran, die Lücke zu füllen. Dabei wurde ich entführt, wegtransportiert. Und mitten in dieser heißen Stadt sank auf einmal meine Körpertemperatur. Ich war ganz in Russland.
Muss man selbst in einem anderen Land oder in einer frem- den Stadt gewesen sein, um darüber schreiben zu können?
Nein. Ich war 14 Jahre alt, als ich begann, mein erstes Buch zu schreiben. Damals lebte ich noch in Lagos, die Geschichte handelte allerdings von einem chinesischen Detektiv. Natürlich war ich vorher nie in China gewesen. Mittlerweile weiß ich, dass viele Schriftsteller es so machen. Es gibt Autoren, die in den Niederlanden leben und über Afrika schreiben, obwohl sie nie dort waren. Kafka schrieb ein Buch über Amerika, ohne jemals einen Fuß auf den Kontinent gesetzt zu haben. Der Geist kann ein Vehikel sein, das ohne körperliche Bewegung funktioniert.
Trotzdem unterscheidet sich die fiktionale Reise doch von dem Gefühl, tatsächlich eine veränderte Luftfeuchtigkeit zu spüren und eine neue Landschaft zu sehen, sobald man den Flughafen verlässt, oder nicht?
Von einem Ort zum anderen zu reisen, das Land oder die Stadt zu wechseln, ist nicht notwendigerweise eine tiefere sensorische Erfahrung als das fiktionale Reisen. Wenn man von Kinshasa nach London fliegt, kann einen das mitunter weniger „bewegen“, als wenn man einfach die heimische Straße entlanggeht. Man steigt in ein Flugzeug, sitzt auf seinem Platz, schaut einen Film, schläft ein, und ein paar Stunden später kommt man irgendwo an, wo es genauso aussieht wie an dem Ort, an dem man abgeflogen ist. Es gibt dieselben Läden, dasselbe Essen, dieselbe gekünstelte Umgebung. Es ist, als habe man sich gar nicht von der Stelle bewegt. Eine meiner Tanten erzählte mir einmal von den Abenteuern, die sie früher erlebte, wenn sie von ihrem Dorf ins Nachbardorf ging. Es dauerte nur zwanzig Minuten, aber es war eine epische Reise, voll von wundervollen Begegnungen mit sichtbaren und unsichtbaren Leuten. Über diese zwanzig Minuten könnte man einen ganzen Roman schreiben.
ein Interview von Jess Smee