Der Klezmerkönig

Der Klarinettist Giora Feidman erzählt aus seinem Leben 

Manchmal frage ich mich, warum es Familien gibt, die nicht von der Musik loskommen. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater: Sie alle haben musiziert. Vielleicht liegt es in unseren Genen. Vielleicht ist es göttliche Einmischung. Fakt ist, dass die meisten Feidmans das musikalische Talent direkt mit der Muttermilch aufgesogen haben. Auch bei mir war das so. Dabei tat mein Vater zu Beginn alles, um zu verhindern, dass ich in seine Fußstapfen trete. Anstatt mich auf die Musikschule zu schicken, meldete er mich an einer Handelsschule an. Statt mir Klarinettenunterricht zu geben, bezahlte er die besten Lehrer der Stadt, um mir Mathematik und Geografie beizubringen.

Zuerst dachte ich, dass es an meiner Krankheit lag. Als ich 1936 in Buenos Aires geboren wurde – meine Familie war zuvor aus Moldawien nach Argentinien ausgewandert –, hatten Ärzte einen Augendefekt festgestellt. Vom ersten Tag an konnte ich die Welt nur verschwommen sehen. Vielleicht dachte mein Vater, ein Blinder könne nicht auf der Bühne stehen. Später merkte ich aber, dass es um etwas anderes ging: Er wollte kein Musikerleben für mich. Er wollte, dass ich mehr lerne, als er in Chisinau gelernt hatte. Aber es war aussichtslos. Ich interessierte mich nur für die Musik.

Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem das auch meinem Vater klar geworden sein musste. Er hatte einen Auftritt und eilte aus der Wohnung. Und als die Tür ins Schloss fiel, lag seine Klarinette noch auf dem Tisch. Er hatte sie vergessen – oder zumindest so getan. Heute glaube ich, dass er sie absichtlich liegen ließ. Ich nahm sie und presste einen Ton heraus. Und alles andere kam dann von ganz alleine.

Als Jugendlicher landete ich am Teatro Colón, einem der bekanntesten Theater Argentiniens, und spielte bei den Shows mit. Nebenbei begleitete ich meinen Vater, wenn er auf jüdischen Hochzeiten auftrat. Wir standen von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens auf der Bühne. Unser größter Erfolg war es, wenn die Leute zehn Sekunden vom Buffet zu uns hochschauten, bevor sie den nächsten Hühnerschenkel in sich reinstopften. Das machte mich glücklich.

Mit Anfang zwanzig machte sich dann das zweite Herz in meiner Brust bemerkbar. Denn ich war ja seit jeher zweierlei: Musiker – und Jude. Ich war Teil der ersten Generation, die nach Israel gehen konnte. Einfach an Ort und Stelle zu bleiben, schien mir eine verpasste Chance zu sein. Also bewarb ich mich beim Israel Philharmonic Orchestra – und wurde zu meiner Überraschung sofort nach dem ersten Vorspielen genommen. Als ich in Tel Aviv ankam, sprach ich kein Hebräisch, alles war mir fremd. Aber ich spürte eine unbeschreibliche Energie, die man wohl nur fühlen kann, wenn man Teil der Diaspora gewesen ist. Wie soll man einem Außenstehenden erklären, wie es sich anfühlt, an einen Ort zurückzukehren, an dem man noch nie gewesen ist?

Und so nahm dann alles seinen Lauf. Beim Sinfonieorchester hielt man mich für ein ausgesprochenes Talent. Leute kannten plötzlich meinen Namen, ich fing an, eigene Konzerte zu spielen. Ich stolperte in das, was andere „eine Karriere“ nennen. Ich habe das aber selbst nie so gesehen. Karrieren waren für mich immer etwas für Formel-1-Fahrer und Banker. Ich konnte auch nichts mit dem Applaus anfangen, der auf einmal über mich hereinbrach. Das schien mir alles zu bedeutungsvoll.

Das einzige Mal, dass ich wirklich glaubte, wichtiger zu sein, als ich es bin, war Anfang der 1990er-Jahre. Damals bekam ich einen Anruf aus Hollywood. Steven Spielberg wollte, dass ich an dem Soundtrack für seinen Film „Schindlers Liste“ mitarbeite. Das war natürlich eine riesige Ehre. Ich weiß noch, wie ich in meinem besten Anzug nach Kalifornien flog. Ich sah aus wie ein echter Pinguin. Und als ich den großen Spielberg dann traf, stand er in kurzen Hosen und Sandalen vor mir. Da habe ich ihn angeschaut und gesagt: „Wissen Sie, warum ich mich so herausgeputzt habe?“ Er schüttelte den Kopf. „Weil man zu einem Meeting mit Spielberg nicht so auftauchen sollte wie Sie!“

Protokolliert von Kai Schnier