Verkehr

Das mobile Prekariat

Unterwegs mit rumänischen Erntehelfern und Saisonarbeiterinnen

Die Mägde und Knechte des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich waren mobil. Oft wechselten sie den Dienstplatz wegen Streit und Schinderei oder weil sie sich kräftigere Mahlzeiten und erträglichere Schlafstätten erhofften. Gearbeitet wurde für Kost und Logis, dazu kamen geringe Geldbeträge und Naturalien. Ein Teil ihres Lohns konnte aus einem Paar Schuhe bestehen, mit denen eine Magd zum nächsten Dienstgeber weiterzog, ein weiterer daraus, sich einen Tag lang ein Gespann leihen zu dürfen, um die Truhe mit Habseligkeiten mitzunehmen. 

Wohn- und Arbeitsbedingungen, die jenen des früheren Gesindes ähneln, gibt es immer noch – die Distanzen haben sich allerdings geändert. Fast alle, die in Österreich in der Landwirtschaft tätig sind, kommen aus dem Ausland, die meisten aus Ost- oder Südosteuropa. Gegenwärtig sind es Transportunternehmen wie Flixbus, Atlassib oder Tarsin, die Menschen mit ihren Schalenkoffern, geflochtenen Plastiktaschen, Rucksäcken und Kartons günstig und gelegentlich unter Missachtung von Vorsicht und Verkehrsregeln zu ihrem nächsten Arbeitsort bringen. Das dichter werdende Netz an Busfirmen und Bahnverbindungen hat verschiedene Bedeutungen, je nachdem, wen man fragt. Für eine Investorin sind sie ein lohnender Wirtschaftszweig, für einen Erwerbslosen ein potenzieller Arbeitgeber. Für einen Landarbeiter sind sie Mittel zum Zweck: Seine Verweildauer im Ausland wird in Monaten bemessen, denn vor allem der Ackerbau kommt fast ohne ganzjährige Arbeitskräfte aus. 

N. fährt stets mit der Bahn, im Liegewagen. So kann er schlafen und wird nur kurz durch die Passkontrolle gestört. Ich begegne N. in seinem siebenbürgischen Herkunftsdorf; er verrichtet Gartenarbeiten, als ich von der anderen Seite des Zauns auf ihn zukomme. N. ist zum ersten Mal fortgegangen, als sein Sohn und seine Tochter bereits erwachsen waren. Wenn die Eltern von jüngeren Kindern abwesend sind, müssen Großeltern oder ältere Geschwister die Verantwortung für sie übernehmen. Eltern, die Hunderte Kilometer entfernt sind, kontrollieren per Skype, ob Hausaufgaben gemacht wurden, oder hören per WhatsApp zu, wenn es Schwierigkeiten in der Schule gibt. In den meisten Fällen ist nur ein Elternteil im Ausland; viele gehen für einen begrenzten Zeitraum, dafür aber häufiger fort. Dazwischen kehren sie immer wieder nach Rumänien zurück. Heimreisen sind beschwerlich, aber sie werden in Kauf genommen. Stunden in kalten Bussen oder überheizten Zugabteilen, mit schnarchenden Mitreisenden und Musik, die durch fremde Kopfhörer dringt. 

N. fährt fünf- bis sechsmal jährlich hin und her, an seinen Arbeitsplatz in der Heurigengegend südlich von Wien und wieder zurück. Die Stelle hat ihm eine Frau aus dem Ort verschafft, als Freundschaftsdienst. Andere Mittelsmenschen hätten Kommission verlangt. Anfangs war N. für die Pflege des Weinguts und die Ernte der Trauben verantwortlich, mittlerweile steht er die meiste Zeit in der Küche, 14 Stunden pro Tag, für sechs Euro die Stunde. Dort klopft er Schnitzel, die er in der Fritteuse oder als Naturschnitzel in der Pfanne zubereitet, im Hof schält er säckeweise Kartoffeln und achtet darauf, dass die Zigarette, die er im Mundwinkel hat, nicht nass wird.

Im Garten des Hauses in Siebenbürgen, das N. mit seiner Frau mietet und irgendwann gerne kaufen würde, stehen zwei Rebstöcke, die er aus Österreich mitgenommen hat: Weißburgunder und Zweigelt. Er weiß nicht, ob sie hier gedeihen werden, die Erde ist schwärzer als im Wiener Becken. An den Hängen hinter dem Ortsende sind künstlich angelegte Terrassen erkennbar, die allerdings brachliegen. Vor der Wende wurde auch hier Wein angebaut. Doch durch die Hanglage ist die Arbeit mit Maschinen nicht möglich. 

Rumänien ist auf Importe von Lebensmitteln angewiesen. In den Regalen der Supermärkte finden sich Fleisch aus Deutschland, Gemüse aus Italien und Früchte aus Spanien. Oft genug sind die Waren von rumänischen Arbeitskräften geschlachtet und zerlegt, angebaut und geerntet worden. Capsunari – Erdbeerpflücker – so lautete die ebenso geläufige wie abwertende Bezeichnung für die Arbeitsmigrantinnen und -migranten der frühen Stunde, die für Ernteeinsätze auf den Erdbeerplantagen Spaniens ihr Herkunftsland verließen. Heute werden alle, die zum Lohnerwerb ins Ausland gehen, Capsunari genannt. Viele von ihnen verschlägt es auf Felder in Deutschland oder Österreich – bis vor wenigen Jahren ausschließlich undokumentiert oder im Rahmen des jährlichen Kontingents für Saisonarbeit.

Seit 2014 gilt auch für sie die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit; EU-Bürgerinnen und Bürger sind sie bereits seit 2007. Jedes Jahr lässt die Sezonieri-Kampagne für die Rechte von Erntehelferinnen und -helfern in Österreich an stark befahrenen Pendlerstrecken Plakate anbringen: Auf einem ist auf Deutsch »Lohndumping ist strafbar!« zu lesen, auf dem anderen in verschiedenen Sprachen »Willkommen«. Darunter in großen Lettern die Information zum vertraglich vereinbarten Mindestlohn, je nach Bundesland eine Zahl zwischen 6,05 und 7,29 Euro. Dass alle rechtlichen Verbindlichkeiten eingehalten wer- den, komme so gut wie gar nicht vor, erfahre ich bei einem Treffen mit Aktivistinnen. Auch, dass die Kontakttelefonnummer auf den Flyern oft erst am Ende der Saison gewählt würden, wenn die Entscheidung gefallen sei, einen Betrieb zu verlassen und ausstehende Überstundenzuschläge oder die Differenz zwischen Stundenlohn und gesetzlichem Mindestlohn einzufordern. 

Temperaturextreme tragen das ihrige dazu bei, dass Landarbeit ein Knochenjob ist. Trockenheit führt zu Ernte- ausfällen und in vielen Fällen geben Bauern den Druck, der auf ihnen lastet nach unten weiter. Ein Mann, der als LKW- Fahrer in Deutschland tätig war, erzählt mir von einem Erntehelfer, der im Hochsommer verdurstet sei.

R. bringt mich von der Busstation in ein entlegenes Dorf und wieder zurück. Die nicht asphaltierte Landstraße ist gesäumt von Bäumen, in deren Kronen Misteln wuchern. R. lenkt geschickt um Erdgruben herum, um die Karosserie zu schonen. Nach dem Abschluss des Lyzeums war er Chauffeur bei einer rumänischen Firma, von seinem Lohn konnte die Familie weder das Haus renovieren noch die Miete für den kleinen Bruder zahlen, der in der Stadt zur Schule ging. R. heuerte in Portugal beim Straßenbau an – er bekam 35 Euro pro Tag für acht Stunden, seine offizielle Arbeitszeit. Inoffiziell waren es mitunter 14 Stunden. Die An- und Abreise mit dem Flugzeug kosteten ihn 350 Euro, merkt er verbittert an. Danach pflückte R. Blumenkohl in der Nähe von Hamburg. Der Ernteeinsatz war besser bezahlt, aber härter als der Alltag auf der Baustelle. Er musste gebückt arbeiten und bekam Rückenschmerzen davon, auch die Kälte machte ihm zu schaffen. Respekt brachte ihm keiner seiner Chefs entgegen, weder in Rumänien noch anderswo. 

Im Dorf ist es ruhig, nicht so gedrängt wie in den Städten. Das Essen ist bio – »aber sonst?«, fragt mich R., obwohl er die Antwort besser weiß als ich. Es gibt eine Bar, in der man das andernorts erworbene Geld vertrinken kann, um den Frust vergangener Monate zu kompensieren. Im Sommer lockt die Ortschaft mit den liebevoll renovierten Häusern Touristengruppen an, Kunsthandwerk und Gastronomie werden langsam zu neuen Einnahmequellen. Es gibt einen blauen Minibus, der Altkleider ins Dorf bringt; einen weißen Lieferwagen, durch dessen Lautsprecher Birnen, Mandarinen und Äpfel feilgeboten werden. Und es gibt mehrere Läden, in denen es möglich ist, anschreiben zu lassen. Ein Familienmitglied wird ins Ausland gehen, Geld verdienen und die Schulden begleichen.